Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
geziert hatte.
Besonders schockiert war ich, als ich erfuhr, dass nicht nur Bücher (zum Beispiel über die Geschichte der Bolschewistischen Partei), die wir eben noch als letzte Weisheit angesehen hatten, eingezogen wurden, sondern dass sogar einige Marx’sche Werke dem Verbot anheimfielen und bestimmte Artikel von Lenin nicht mehr publiziert und zitiert werden durften. Nicht weniger Unbehagen verspürte ich, als pathetische Broschüren über die Seeschlacht von Zussima (im Russisch-Japanischen Krieg) erschienen und alte russische Feldherren als Vorbilder aus der Mottenkiste geholt wurden.
In der ersten Moskauer Zeit war ich häufiger von der «Gesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland»* gebeten worden, in einem russischen Klub über Deutschland zu sprechen. Selbstverständlich wurde erwartet, dass man die Zuhörer vom ungebrochenen Kampfgeist der deutschen Kommunisten überzeugte (was dazu führte, dass ich mich mitunter dazu verleiten ließ, Gewünschtes für Realität auszugeben). Dass ich zu solchen Reden immer seltener eingeladen wurde, merkte ich anfangs nicht oder schob es auf organisatorische Mängel. Später aber wunderte ich mich darüber, dass die Aufmerksamkeit der Menschen in den Betrieben und Klubs immer mehr auf die Geschichte des russischen «Vaterlandes» und auf das Heldentum zaristischer Heerführer gelenkt wurde. Man sprach vom «heiligen» Alexander Newski, der vor 700 Jahren die deutschen Ordensritter besiegt hatte, aber auch immer häufiger von Feldherren, die nicht gegen Deutsche gekämpft hatten. Währenddessen wurden Fabriken oder Institutionen, die nach ausländischen Revolutionären – etwa nach Rosa Luxemburg – benannt waren, plötzlich und ohne viel Aufhebens umbenannt. Zugleich breitete sich die Ordens-, Abzeichen- und Plakettenplage immer weiter aus. Im Stadtbild tauchten massenweise neue Uniformen auf, Wehrsport- und Schützenwettbewerbe wurden immer populärer.
An der Idee des Sozialismus zweifelte ich keinen Augenblick, aber war das, was hier geschah, der richtige Weg, diese Idee in die Praxis umzusetzen? Mein Blick wurde kritischer. Mich bedrückten die kleinen Ungerechtigkeiten, die Bürokratie, die Aufspaltung der Gesellschaft in viele Kasten. Die einen durften dort kaufen, die anderen woanders, den dritten (und dazu gehörte ich) standen nur Geschäfte zur Verfügung, in denen es nichts zu kaufen gab. Viele Klubs, die meisten Erholungsheime, ja schon Wohnhäuser glichen Festungen, zu denen nur Auserwählte Zutritt hatten.
Hinzu kam, dass meine persönlichen Zukunftshoffnungen einen unerwarteten Rückschlag erlitten. Obwohl ich mich allmählich an der KUNMS eingelebt hatte, träumte ich in Wahrheit davon, Forscher, Polarreisender oder Geologe zu werden. So hatte ich nach zehn Monaten als Zeichner beschlossen, mich um einen Studienplatz an der Moskauer Universität zu bewerben. Dazu brauchte man damals, ehe das obligatorische Abiturzeugnis eingeführt wurde, neben einer Klausurarbeit nur ein paar mündliche Prüfungsfragen zu beantworten. Insbesondere bei der Klausurarbeit war es ausdrücklich erlaubt, die Sprache seiner Wahl (genauer: die Sprache, in der man unterrichtet worden war) zu verwenden, deshalb schrieb ich den Aufsatz zum Thema «Leo Tolstoi als Spiegel der Russischen Revolution» auf Deutsch. Mein Text war sicher passabel, auf jeden Fall ausreichend für die Immatrikulation, da ich Lenins Aufsätze über Tolstoi kannte. Umso enttäuschter war ich, als ich anderentags vergeblich meinen Namen auf der ausgehängten Liste der aufgenommenen Studenten suchte. Es wurde mir erklärt, dass der Dozent für deutsche Sprache, dem mein Aufsatz übergeben worden war, meine Handschrift nicht hätte entziffern können und die Arbeit nicht benotet hatte. Da meine Schrift aber (damals) durchaus leserlich war, konnte ich mir das nicht erklären. Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass der Dozent den sich allmählich breitmachenden Nationalismus aufmerksam registriert und vorgezogen hatte, sich keine Scherereien wegen eines Ausländers einzuhandeln.
Nach der unerwarteten Absage stand ich im alten Universitätshof neben dem damals noch nicht abgerissenen Pokrowski-Denkmal und rauchte, als mir jemand die Hand auf die Schulter legte. Ich drehte mich um und sah Alexander Emel, den ich als den Ehemann von Isa Kogon kannte, einer ehemaligen Kollegin meiner Mutter aus der Zeit, als sie in Berlin für die Sowjetische Außenhandelsvertretung gearbeitet hatte. Nachdem
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