Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Kost, Rauchverbot usw. gefügig machte. Hartnäckigere wurden durch Geräusche und blendendes Licht am Schlafen gehindert, in Dunkelzellen gesteckt, die nicht größer als ein Sarg waren. Oft wurden ihnen belastende Geständnisse anderer Opfer vorgelegt. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass ein Geständnis die Strafe mindern und zumindest die Kinder und Ehefrau retten würde. Regelrecht geschlagen worden ist nur ein einziger Häftling in meinem Bekanntenkreis.
Am erstaunlichsten waren jedoch die öffentlichen Geständnisse der einstigen Kampfgefährten Lenins, die plötzlich zugaben, gestandene Feinde der Revolution zu sein, mit den Faschisten gegen den Sowjetstaat kooperiert zu haben oder Ähnliches. Sepp, Stjopa und ich zerbrachen uns die Köpfe darüber, wie das zu erklären sei. Wir neigten dazu, alles auf raffinierte, keine Spuren hinterlassende Foltermethoden zurückzuführen, und sagten uns, dass man diejenigen, die der Folter standgehalten hatten, eben nicht vor ein öffentliches Gericht stellte, sondern hinter verschlossenen Türen verurteilte.
Heute denke ich, dass dies nur ein Teil der Wahrheit ist. Sicherlich wird man davon ausgehen müssen, dass die meisten angeklagten Spitzenpolitiker psychisch und physisch zermürbt wurden, dass sie hofften (und dass man es ihnen versprach), als Belohnung für ihre Geständnisse am Leben bleiben zu dürfen. Allerdings waren sie bei dem jahrzehntelangen Gerangel um die Parteiführung schon zuvor oft gezwungen worden, zu Kreuze zu kriechen oder ehemals Gleichgesinnte als Abtrünnige zu beschimpfen. Sie wussten, dass niemand ihrer Genossen und Mitkämpfer für sie eintreten würde. Sie waren vereinsamt und durch zahllose Demütigungen ihres Selbstwertgefühls beraubt. Im Grunde blieb ihnen keine Wahl als das Geständnis.
Die dritte Frage, die uns beschäftigte, war die nach dem Warum. Sepp, Stjopa und ich waren uns darüber einig, dass der Terror darauf angelegt war, die potenziellen Rivalen Stalins zu vernichten, den Exekutivapparat zu festigen und das ganze Volk dem Willen des Diktators gefügig zu machen. Nur, warum ließ der Diktator so viele Menschen vernichten, die sich als brauchbare Werkzeuge erwiesen hatten? Untergrub er nicht die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, schwächte er nicht den Militärapparat? Wonach strebte er, da er doch bereits im Besitz unbegrenzter Macht war?
Stopja sah die Sache ganz einfach. Nach seiner Meinung war die Welt ein Kampfplatz von Gut und Böse. In Stalin sah er so etwas wie die Inkarnation des Teufels, der sich mit allen Mitteln bemühte, das Erbe von Marx, Engels und Lenin zu vernichten. Wenn Lenin noch lebte, würde auch er ermordet werden, so wie seinerzeit Danton und Robespierre von den Erben der Französischen Revolution ermordet worden waren.
Sepp lehnte diese Deutung ab. Er versuchte einen Sinn in dem undurchschaubaren Wirrwarr zu entdecken. Nicht umsonst, sagte er, singe man neuerdings an allen Ecken das Lied: «Wenn es morgen zum Krieg kommt, sei schon heute zum Feldzug bereit …» Die ganze Politik sei auf einen bevorstehenden Krieg ausgerichtet. Lenin selbst würde, wenn er noch lebte, den Terror unterstützen, und Sepp wies auch darauf hin, dass Lenin schon mit verleumderischen Mitteln gearbeitet habe.
Ich dagegen versuchte mir einzureden, dass sich hier so etwas wie der Aufstieg eines zweiten Napoleon Bonaparte vollzog, für dessen Rolle sich zufällig eine besonders «geeignete» Person gefunden habe. Die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte setzten sich niemals geradlinig durch. Auch wenn mir damals das Ausmaß des Terrors nicht annähernd bewusst war, blieben derartige Erklärungen natürlich unbefriedigend.
Schließlich fragten wir uns, wen von uns es am ehesten treffen könnte. Stjopa, der zwar Bulgare war, aber immerhin in der Sowjetunion geboren, konnte eher als Sepp und ich hoffen, der Verhaftung zu entgehen. Allerdings erhielt diese Hoffnung einen schweren Dämpfer, als Stjopas Bruder in den Gefängnissen des NKWD verschwand.
Sepp hingegen war fest davon überzeugt, dass seine Tage gezählt waren. Die in die Sowjetunion gekommenen Schutzbündler standen beim NKWD in schlechtem Ruf, da ein Teil wieder nach Österreich zurückgegangen war. Der andere Teil war fast bis auf den letzten Mann verhaftet. Ich glaubte noch geringere Überlebenschancen zu haben als mein Freund, aufgrund meiner über Hans und Mutter existierenden Verbindungen zur Komintern, besonders zur OMS, deren Mitglieder man nach und
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