Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
geschickt hatte. Eine meiner wenigen Erinnerungen an dieses benachteiligte Menschenkind ist, dass es, nachdem es, wie in Russland üblich, zu Beginn des Winters die Fensterritzen mit Papierstreifen verklebt hatte, den Rest des dazu verwendeten Mehlkleisters schmatzend verzehrte.
Während Vera sich auf unsere Tochter und auf die Verschönerung der Wohnung konzentrierte, waren Familie und Haus für mich kein ausreichender Lebensinhalt. Ich schrieb damals ein paar Kurzgeschichten, die ich Vera zu lesen gab. Vera fand die Geschichten weder gut noch schlecht, sondern bemängelte die Art der Beschäftigung als solche: Sie sei nutzlos, weil eine Veröffentlichung (und somit ein Verdienst) ausgeschlossen sei. Noch sinnloser war nach ihrer Meinung mein Interesse für diverse Wissensgebiete, für die ich, da ich Bücher kaufte, obendrein Geld ausgab. Während Vera von der Vergrößerung unseres Wohnraumes träumte, träumte ich vom Studium. Dies wurde zu einem neuralgischen Punkt in unserer Beziehung. Obwohl ich unter den gegebenen Umständen lediglich ein Fernstudium anstrebte, rechnete sie mir vor, dass ich sechs Jahre vergeuden würde: Fünf Jahre dauerte das Studium selbst, ein Jahr würde ich brauchen, um das neuerdings nötige Abitur nachzuholen. Am Ende würde ich mit 28 am Beginn einer ungewissen Karriere stehen. Trotzdem meldete ich mich Ende August 1939 in der Abendschule für Erwachsene an.
Genau zu diesem Zeitpunkt erfolgte der Besuch des faschistischen deutschen Außenministers Ribbentrop in Moskau und der Abschluss des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes. Ich empfand die Nachricht wie einen Keulenschlag. Ganz anders reagierten die meisten anderen Menschen in meiner Umgebung. Rasch ihre anfängliche Verblüffung überwindend, sprachen sie begeistert von der deutsch-russischen Verständigung. Vera hielt mir triumphierend vor, dass all mein Gerede über deutsche Kriegspläne gegen die Sowjetunion Spinnerei gewesen sei. Die beiden stärksten Männer der Welt hätten sich geeinigt, mit Deutschland und Russland werde es nun unaufhaltsam vorangehen. Während ich mich mit Gedanken darüber quälte, wie der Hitler-Stalin-Pakt von den geschundenen Kommunisten in Deutschland aufgenommen werden würde, was wohl die polnischen Genossen beim bald darauffolgenden Überfall beider Diktatoren auf Polen empfunden haben mochten oder wie die Kriegserklärungen der (ja eigentlich feindlichen) Westmächte gegen Deutschland zu werten seien, ließ Vera mich fühlen, dass sie mit ihrer politikfernen Haltung alles viel realistischer gesehen hatte als ich.
In dieser Zeit lernte ich in der Abendschule eine andere Frau kennen. Ihre großen, braunen Augen waren mir sogleich aufgefallen. Während einer Literaturstunde hielt sie ein Kurzreferat über Lermontow und die kaukasischen Völker. Nicht nur, dass sie abgedroschene Wendungen vermied, hinter dem Gesagten spürte man kritische Gedanken über die in den Schulbüchern glorifizierte russische Unterwerfung der Bergvölker. Nach der Stunde verzichtete ich auf meine Pausenzigarette und sprach die Genossin an. Ob sie meinte, in ihrem Kurzreferat das gesagt zu haben, was der Lehrer erwartet habe. Sie sah mich einen Augenblick erstaunt an: Nein, das glaube sie nicht. Im Nu waren wir in ein Gespräch verwickelt.
Von diesem Tag an unterhielt ich mich oft mit meiner neuen Bekannten. Sie hieß Veronika Iwanowna und arbeitete als stellvertretende Hauptbuchhalterin in einem En-gros-Warenlager, träumte aber von einer Schauspielerlaufbahn am Malyj-Theater. Vor einigen Jahren war sie von einer «Verdienten Künstlerin des Volkes» in einem Laienzirkel entdeckt worden und wollte nun das Abitur machen, um in die Schauspielschule aufgenommen zu werden. Schon seit Jahren hatte sie sich mit Theatergeschichte und insbesondere mit dem Werk Ostrowskis befasst. Daneben interessierte sie sich aber auch für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts, für Astronomie, für philosophische Fragen und vieles mehr.
Natürlich blieb es nicht aus, dass auch die Tagespolitik in unsere Gespräche eindrang. Ende 1939 begann die Sowjetunion den Krieg gegen Finnland mit der lächerlichen Begründung, dass man von finnischem Territorium aus Leningrad beschießen könne. Zu Hause war Vera entzückt über den patriotischen Tonfall der ersten Kriegsberichte der Prawda , Veronika hingegen war zutiefst betroffen.
Natürlich hatten wir angenommen, dass der kleine Nachbarstaat im Handumdrehen erobert werden würde, doch es kam
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