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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Gespräch führte ich mit einer Frau. Vera Valentinowna Forsander hatte ich schon im Winter bei meiner Nachbarin Zilli kennengelernt. Sie war fünf Jahre älter als ich, verheiratet, aber die Ehe war zerrüttet, wie ich von Zilli erfuhr. Zuerst beachtete ich die junge Frau kaum. Der Zufall wollte es jedoch, dass wir uns öfter im Vorortzug begegneten. Einmal verleitete mich Vera Valentinowna, obwohl auch sie nicht wirklich gläubig war, zum Besuch eines Ostergottesdienstes, um mir etwas über die «russische Seele» zu vermitteln. Es vergingen Wochen, bevor wir uns wiederbegegneten. Ich begleitete sie, wie schon oft, bis zur Haustür. Dieses Mal aber bat mich Vera ins Haus, wo das besagte Gespräch stattfand.
    Das Zimmer, das Vera mit ihrem (offenbar ständig abwesenden) Ehemann bewohnte, spiegelte eine andere, mir fremde Welt wider. Es war voller kleiner und kleinster Dinge. Auf dem Bett lag eine in verschiedenen Farben gehäkelte Überdecke, darauf eine Vielzahl von Kissen und Mini-Kissen (auf Russisch: dumotschka , also etwa «Sinnier- oder Phantasierkissen»). Überall waren mit ukrainischer Folklore bestickte Deckchen verteilt, es gab bunte Teppichbrücken, kleine Lämpchen mit befransten Schirmen, Blumenständer, Bilder in achteckigen Rahmen, Muscheln, Vasen und dergleichen mehr. Indes, anheimelnd war es schon.
    Vera Valentinowna setzte einen zierlichen Samowar auf, holte selbstgebackene Kekse in einem selbstbemalten Schächtelchen, stellte eine eigenhändig eingekochte Quittenmarmelade dazu und las mir aus einem vergilbten Büchlein Gedichte vor.
    Von diesem Tag an trafen wir uns fast jeden Abend. Kurze Zeit später zog Vera bei ihrem Ehemann aus und mietete für uns ein Zimmer. Unser Leben verlief in Eintracht, ohne Erschütterungen, aber auch ohne Höhepunkte. Ein angenehmer Alltag fasste Tritt. Plötzlich war ich nicht mehr auf das miserable Kantinenessen angewiesen. Meine Hemden waren sauber, meine Socken gestopft. Oft gingen wir spazieren oder schauten uns im Kino die neuesten Filme an.
    Mitte oder Ende November 1937 eröffnete mir meine Freundin, dass sie schwanger sei. Anfang Dezember ließ sich Vera von ihrem Ehemann scheiden. Noch vor Ablauf des Jahres heirateten wir.
    Zu dieser Zeit waren meine Eltern noch in Moskau. Erwin besuchte uns sogar mehrmals und spielte den galanten Schwiegervater. Meine Mutter machte jedoch nicht gerade ein zufriedenes Gesicht, als sie, nachdem sie mich befragt hatte, nüchtern resümierte: fünf Jahre älter, geschieden, ohne «richtigen» Beruf, politisch desinteressiert … Vera gegenüber war sie jedoch freundlich, und Vera, die ihre Freundlichkeit für bare Münze nahm, schätzte sich glücklich, so elegante und dazu noch ausländische Schwiegereltern zu haben. Als Mutter sie einmal einem richtigen Schriftsteller vorstellte, wähnte sie sich im Kreise der Hautevolee – obwohl sie lauter Todeskandidaten vor sich hatte.
    Da wir angesichts des bevorstehenden Ereignisses in unserer kalten und feuchten Bude unmöglich bleiben konnten, mussten wir uns nach einer Wohnung umsehen. Wir arbeiteten zu dieser Zeit beide viel zu Hause, sodass wir eigentlich eine Zweizimmerwohnung benötigten. Eine solche zu mieten war praktisch unmöglich, uns blieb nur ein Ausweg: Wir mussten eine Eigentumswohnung erwerben. Mit diesem Ziel vor Augen begannen wir wie die Besessenen zu arbeiten. Ich nahm zusätzliche Aufträge vom Bubnow-Institut und anderen Institutionen an. Obwohl wir einen Teil des Geldes schließlich leihen mussten, bezogen wir tatsächlich unmittelbar vor der Geburt ein kleines Holzhaus im Moskauer Vorort Perlowka.
    Unsere Tochter Charlotte wurde am 11. Juli 1938 geboren. Plötzlich waren wir eine normale, für sowjetische Verhältnisse fast saturierte junge Familie: Wir hatten ein gesundes Kind, hatten Arbeit, waren Besitzer einer mehr oder weniger schön eingerichteten Wohnung. Ich hätte umso mehr aufatmen können, als alle Zeichen darauf hindeuteten, dass sich der das ganze Land lähmende Terror abzuschwächen begann.
    Indes währte unser Familienglück nicht lange. Bald zeichneten sich unterschiedliche Vorstellungen über unser zukünftiges Leben ab. Manche von Veras Wünschen schienen mir befremdlich. So wollte sie beispielsweise unbedingt eine Haushaltshilfe ( domrabotniza ) einstellen und setzte sich schließlich auch durch. Sie engagierte ein freundliches, fünfzehn- oder sechzehnjähriges Dorfmädchen, das eine vermutlich Hunger leidende Bauernfamilie in die Stadt

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