Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
dem Zugriff des NKWD entzogen. 4 Für mich bedeutete dies, dass sich der Zufall wieder einmal in mein Leben eingeschaltet hatte, denn wäre Mutter als imperialistische Agentin (oder wie die Beschuldigungen sonst lauten mochten) «entlarvt» worden, hätte das Innenkommissariat auch mit mir kurzen Prozess gemacht.
Buchstäblich am Tag vor der festgesetzten Ausreise kam es jedoch noch zu einer schweren Panne. Alle Mitarbeiter der Fälscherwerkstatt der OMS, in der gerade die Reisepapiere für Hans und Charlotte (auf den Namen Schnabel) fertiggestellt worden waren, wurden verhaftet. Die beiden schwebten noch einmal in Todesangst, doch mit zweitägiger Verspätung erhielten sie die Papiere. In einer Februarnacht des Jahres 1938 begleitete ich sie zum Bahnhof, wo sie den Moskau-Leningrad-Express «Roter Pfeil» bestiegen. 24 Stunden später waren sie in Finnland.
Zwei Monate später wurde mein Vater, dessen einst von Bucharin gegründetes «Institut der Roten Professur» sich ebenfalls in Auflösung befand, nach Deutschland abgeschoben. Im Gegensatz zu Walter und mir hatte er sich nicht um die sowjetische Staatsbürgerschaft bemüht. Kurz nach Neujahr hatte man ihm in der Abteilung für Visa und Registratur (OWIR) erklärt, dass es einer neuen Verordnung gemäß keine Einlagen zum Pass mehr gebe. Die Genehmigung zur Verlängerung des Aufenthalts müsse neuerdings direkt in den Pass eingestempelt werden. Da Erwins deutscher Reisepass aber (wie die Pässe vieler Emigranten) abgelaufen war, bedauerten die Beamten, den erforderlichen Stempel nicht geben zu können. Dies sei erst möglich, wenn der Pass – durch die deutsche Botschaft! – verlängert worden sei.
Da Erwin sich zunächst weigerte, die Botschaft Hitlerdeutschlands aufzusuchen, kreuzte bei ihm von nun an Abend für Abend ein Doppelposten einer Art Arbeitermiliz auf und erinnerte ihn daran, dass er keine gültigen Papiere besaß. Einen solchen Besuch habe ich miterlebt. Nach kräftigem Pochen an der Zimmertür traten zwei junge Leute in Zivil, aber mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett ein und fragten, ob Erwin und Gerda ihre dokumenty in Ordnung gebracht hätten. Als Erwin verneinte, ließen sie sich seelenruhig neben dem Ofen auf dem Fußboden nieder, rauchten sich jeder eine papirossa an und taten so, als seien sie allein im Raum. Vater sprach sie mehrmals an, doch sie wiederholten nur ihre Frage nach den dokumenty und ließen sich auf keinerlei Gespräch ein. Ein Glas Tee, ja selbst einen Aschenbecher lehnten sie ab: Die Asche ihrer papirossy verstreuten sie auf dem Fußboden. So saßen sie zwei Stunden. Dann erhoben sie sich, kündigten an, am nächsten Tag wiederzukommen, und gingen.
Nach einer Woche begab Erwin sich zur deutschen Botschaft, und in seinen Pass wurde ein auf 14 Tage befristeter Verlängerungsvermerk mit dem Zusatz «Gültig zur Rückreise ins Deutsche Reich» eingestempelt. Als Erwin den Pass am folgenden Tag im OWIR vorlegte, bedauerten die Beamten dort, unter solchen Umständen keine weitere Aufenthaltsgenehmigung erteilen zu können. Im April 1938 verabschiedete ich meinen Vater und Gerda an der Tür ihres Hauses, von wo aus sie ein Taxi zum Belorussischen Bahnhof brachte.
Im Gegensatz zu dem bekannten Fall von Margarete Buber-Neumann, die, nachdem sie in der Sowjetunion 1938 zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt worden war, 1940 an Hitlerdeutschland ausgeliefert wurde, wo sie fünf Jahre im KZ Ravensbrück verbrachte, ließen die Nazis Erwin, der nie ein hoher Funktionär der KPD gewesen war, in Ruhe. In den Schuldienst durfte er selbstverständlich nicht zurück. Eine Zeitlang war er Vertreter für Staubsauger und Kaffeemühlen. Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres wurde er – als Hauptmann der Reserve – mit 54 Jahren zur Wehrmacht einberufen. Seinen eigenen Angaben zufolge arbeitete er in Prag in der Intendantur und kümmerte sich um die Versorgung der Truppe mit Autoreifen. 1945 ging er nach Westdeutschland, wo er bis zu seiner Pensionierung als Lehrer in einer Reformschule arbeitete.
Obwohl ich zu meinen Eltern wenig Kontakt gehabt hatte, war ich nach ihrem Verschwinden vollkommen auf mich allein gestellt. Viele meiner Bekannten waren verhaftet, und die, die noch nicht verhaftet waren, gingen einander aus dem Weg. So zynisch es klingen mag, bildete sich 1937/38 in Moskau eine Atmosphäre heraus, in der man sich nachgerade schämen musste, nicht verhaftet zu sein. Obwohl auch massenweise Denunzianten verschwanden,
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