Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Facharbeiter und Invaliden betroffen), wenn man überdies berücksichtigt, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sogenannten mobilisierten Deutschen möglicherweise sogar noch schlechter waren als die der regulären Häftlinge, so muss man davon ausgehen, dass die Sterberate in den Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren kaum weniger als 50 Prozent betrug. Dies bedeutet, dass die Lager in 20 Jahren nicht zwei, sondern vier Durchgänge mit insgesamt mindestens 20 Millionen Menschen erlebt haben.
Zu den von Repressalien Betroffenen gehörten auch die Deportierten und Zwangsarbeiter. Die Deportation von sogenannten Kulaken (oft wurden Bauern, die ein oder zwei Kühe besaßen, schon als solche eingestuft) während der Kollektivierung ging zweifellos ebenfalls in die Millionen. Obendrein wurden mindestens acht Völkerschaften (Deutsche, Tschetschenen, Inguschen, Kalmücken, Adygäer, Balkaren, Tscherkessen und Krim-Tataren), denen 1959 nach der Volkszählung 2,5 Millionen Menschen angehörten, im Laufe des Krieges bis auf den letzten Mann hinter den Ural umgesiedelt.
Gemäß diesen Schätzungen gelangt man zu dem Ergebnis, dass 5 Millionen in die Verbannungsgebiete kamen; etwa 20 Millionen Menschen kamen in Arbeitslager; rund 10 Millionen verstarben dort. Insgesamt sind das 25 Millionen oder 23 Prozent der Bevölkerung. Und damit sind noch nicht einmal diejenigen «Volksfeinde» erfasst, die unmittelbar, also ohne in ein Lager zu kommen, erschossen wurden. Zum Vergleich: Nach vorsichtigen Schätzungen beträgt die Zahl der im Mittelalter in ganz Europa verbrannten, geräderten, ertränkten Ketzer und Hexen 8 Millionen Menschen. 6
In allen Volkskommissariaten wurden zwei oder gar drei Volkskommissare nacheinander als «Volksfeinde» entlarvt. Auch bei den Trägern anderer hoher Staatsämter betrug die Quote 50 bis 100 Prozent. 70 Prozent der ZK-Mitglieder und 56 Prozent der Deligierten des 17. Parteitages der KPdSU (1934) wurden als «Volksfeinde» entlarvt und erschossen. Ebenso wurden fast alle Brigade- und Divisionskommandeure und alle Befehlshaber von Armeekorps und Militärbezirken «repressiert» (sodass die Sowjetunion drei Jahre später mit einer praktisch «enthaupteten» Armee in den Krieg zog).
Die Vernichtungswelle machte vor keinem Bereich der Gesellschaft halt. Soweit mir bekannt ist, gibt es nur einen einzigen Personenkreis, der verschont blieb: das Moskauer Ballett! Schließlich konnten die Herrschaften nicht ununterbrochen Mordbefehle geben, sondern wollten in ihrer Freizeit auch ein wenig das Leben genießen (ob es beim bloßen Beschauen der Damen blieb, sei dahingestellt).
Die zweite Frage, die Sepp, Stjopa und mich beschäftigte, wenn wir halbe Nächte hindurch auf dem Fußboden vor dem Ofen sitzend diskutierten, betraf die Methoden des Terrors. Wie wurden die Verhafteten dazu gezwungen, Verbrechen einzugestehen, die sie niemals begangen hatten? Diese Frage ist bis auf den heutigen Tag nicht völlig geklärt. Dennoch ließen sich damals schon einige Überlegungen über die Funktionsweise des Terrors anstellen. Zunächst muss man feststellen, dass sich alle Verhafteten schuldig fühlten. Da sich nämlich kein Mensch hundertprozentig mit der unrealistischen oder verlogenen Parteidoktrin identifizieren konnte, musste er seine Zweifel geheim halten, sodass er ganz zu Recht der «Doppelzüngigkeit» (eine beliebte Anschuldigung) bezichtigt wurde.
Nicht vergessen werden darf außerdem, dass von einem Großteil der Beschuldigten überhaupt kein Geständnis erwartet wurde. Insbesondere traf das auf Menschen zu, die selbst gar keine «Verbrechen» ausgeübt hatten, sondern «ausreichend» durch die Zusammenarbeit oder die Bekanntschaft oder Verwandtschaft belastet waren (deren «Verbrechen» – die sie gar nicht als solche erkennen konnten – sie nicht gemeldet hatten). Ich habe später im Lager sehr viele Menschen getroffen, die auf die Frage nach ihrem Vergehen selbstverständlich Antworten gaben wie: «Mein Onkel ist erschossen worden.»
Indes gab es auch Millionen von Menschen, die sich ausdrücklich zu Verbrechen bekannten, die sie nie begangen hatten. Teils handelte es sich um einfache, durch jahrhundertelange Untertanentradition geprägte Leute, die jedes Protokoll, das ihnen die Obrigkeit vorlegte, ohne größeren Widerstand unterschrieben. Viele Strafgefangene haben mir erzählt, dass man sie durch stunden- und tagelange Verhöre, Entzug von Trinkwasser bei salziger
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