Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
konnte einen allein die Tatsache, dass man noch nicht hinter Gittern war, in den Verdacht bringen, ein Zuträger zu sein.
Ich litt sehr unter der Einsamkeit. Abends in meinem Zimmerchen in Losinoostrowskaja versuchte ich mich mit Lektüre abzulenken. Am meisten interessierten mich philosophische Schriften. Ich las Spinoza und Kant, auch Lucretius, ohne allerdings Antworten auf meine Fragen zu finden.
Kontakt hatte ich noch zu meinem alten KUNMS-Kumpel Stjopa Nikolajew. Mit ihm konnte ich offen reden. Von Zeit zu Zeit schlenderten wir durch die dunklen Straßen und schütteten uns unsere Herzen aus. Obwohl es gegen die in allen Notstandszeiten geltende Regel «Wo mehr als zwei zusammenstehen, da soll man auseinandergehen» verstieß, wurde aus unserem Zweierbund sogar ein Dreierbund. Eines Abends nämlich, und zwar gerade an dem Tag, als Stjopa von der Verhaftung seines Bruders erfahren hatte, begegneten wir zufällig einem alten Freund von mir aus dem Ausländerklub, dem rothaarigen Schutzbündler Sepp. Ich sagte beiden, dass ich mich hundertprozentig für den anderen verbürge, sodass sie, trotz der herrschenden Atmosphäre, Zutrauen zueinander fassten.
Sepp, der ein Zimmer im Stadtzentrum hatte, lud uns zu sich ein. Nur müssten wir ihn, sagte er, vorgehen lassen und dann einzeln unauffällig nachkommen. Die Leute in seiner Wohnung sahen ihn, den Ausländer, ohnehin scheel an und schnüffelten hinter ihm her. Sepps Zimmer war geräumig und recht gut eingerichtet, allerdings nahm ich die Ausstattung erst nach und nach wahr, denn Sepp empfing uns im Dunkeln. Als ich zwei, drei Minuten nach Stjopa das Zimmer betrat, war der Hausherr damit beschäftigt, im Ofen Feuer zu machen. «Am besten», sagte er, «knipsen wir gar kein Licht an.» Wir setzten uns auf den Fußboden vor die offene Ofentür und tauschten im Schein des Feuers flüsternd unsere Gedanken über die aus den Fugen geratene Welt aus. Sehr bald wurden unsere Diskussionsabende zur Regel.
Eine der ersten und naheliegendsten Fragen, auf die wir immer wieder zurückkamen, war die nach dem Ausmaß der Verfolgung und nach der Anzahl der Opfer. Sepp meinte, dass es 10- oder 20-mal mehr Tote gebe als in der grausigen Bartholomäusnacht, die sich als Höhepunkt des Schreckens im Gedächtnis der Menschheit bewahrt habe. Diese Äußerung, an die ich mich gut erinnere, beweist, dass wir damals keine auch nur annähernd zutreffende Vorstellung von der Dimension des Grauens hatten. Obgleich die sowjetische Führung in den vergangenen 50 Jahren nicht gewagt hat (und wahrscheinlich auch künftig nicht wagen wird), Angaben über die Gesamtzahl der Opfer des Stalin’schen Terrors zu veröffentlichen, lässt sich heute ein gewisser Überblick gewinnen. Westliche Historiker haben Schätzungen angestellt, denen zufolge die Zahl der Opfer der Terrorjahre zwischen 5 und 15 Millionen Menschen liegt. Ich muss leider annehmen, dass die zweite Zahl der Wirklichkeit sehr viel näher kommt als die erste. Meine eigenen Schätzungen über die Zahl der Opfer gehen davon aus, dass das Lager, in das ich nach Kriegsbeginn eingeliefert wurde (Sewerurallag, Nordural-Lager) die Nummer 239 trug, also insgesamt mit mindestens circa 250 Lagern 5 zu rechnen ist. Das Sewerurallag* gehörte mit seinen 16 000 Sträflingen vermutlich zu den kleinsten sowjetischen Lagern. Bei den Großbauten des Kommunismus (zum Beispiel beim Wolga-Don-Kanal, davor bei der Turkestan-Sibirischen Eisenbahn, beim Weißmeer- und Wolga-Moskau-Kanal sowie später bei den Kraftwerken von Bratsk, Ust-Ilimsk usw.), bei denen es sich ja auch um Straflager handelte, betrug die Zahl der Beschäftigten ein Vielfaches. Veranschlagt man durchschnittlich vorsichtige 20 000 Sträflinge pro Lager, so ergibt sich, dass sich zwischen dem ersten Schauprozess 1936 und dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, der die Rehabilitierungswelle einleitete, ständig 5 Millionen Menschen in Lagerhaft befanden: 20 Jahre lang. Die verhängten Strafen betrugen in aller Regel zehn Jahre, sodass man auf 10 Millionen zu Lagerhaft Verurteilte kommt. Diese Zahl vergrößert sich noch, wenn man die hohe Sterblichkeit der unterernährten und körperlich schwer arbeitenden Häftlinge einbezieht. In unser Lager waren 1942 16000 Deutsche (Sowjetbürger deutscher Abstammung) eingeliefert worden, 1954 aber nur noch 600 übrig! Selbst wenn man annimmt, dass einige hundert in andere Lager überführt wurden (von der Verlegung waren nur gelegentlich
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