Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
anders. Überall kursierten Gerüchte über unbezwingbare finnische Scharfschützen, über riesige russische Verluste, über die völlig unzureichende Ausrüstung der Rotarmisten. Man fragte sich, wie die Sowjetunion in einem Krieg gegen größere Nachbarn bestehen sollte. Zwar war, wie man hörte, nur der Leningrader Militärbezirk im Einsatz – aber allein dieser war größer und bevölkerungsreicher als ganz Finnland. Obendrein spürte man überall, dass sich schon dieser «kleine» Krieg verheerend auf die Versorgungslage auswirkte. Noch gedrückter wurde die Stimmung, weil die Misserfolge an der Front eine Verschärfung der inneren Lage nach sich zogen. Es setzte eine brutale Kampagne gegen angebliche Gerüchtemacher ein, und immer häufiger hörte man wieder von Verhaftungen. In dieser Situation war es erleichternd, jemanden neben sich zu haben, der sich mit den gleichen Zweifeln herumschlug und den Mut hatte, Dinge auszusprechen, die offiziell nicht geduldet waren.
Ich fuhr nun jeden Tag mit meiner Mitschülerin bis zum Majakowski-Platz, wo sie wohnte; dann sauste ich zurück zum Bahnhof, um den letzten Zug zu erwischen. Meiner Frau erzählte ich, dass wir nun täglich sechs Stunden hätten. Irgendwann, kurz nach Neujahr, sah eine Nachbarin aus Perlowka Veronika und mich zu nächtlicher Stunde in der Metro und berichtete Vera davon. Kurz darauf teilte Veronika mir mit, dass Vera sie besucht und sie gebeten habe, von mir abzulassen. «Es war unklug von deiner Frau», fügte sie hinzu, «mich auch noch zu fragen, ob ich dich liebe … Lügen wollte ich nicht.»
Als wir uns diesmal an der Metrostation Majakowskaja verabschiedeten, küssten wir uns – zum ersten Mal, scheu und flüchtig.
Vera war fest entschlossen, unsere Ehe zu retten, und ging dem offenen Zerwürfnis lange Zeit aus dem Weg. Eine Zeitlang schliefen wir getrennt, aber wir sprachen miteinander, als stünde kein Schatten zwischen uns. Zum endgültigen Bruch kam es, als das faschistische Deutschland im April 1940 Dänemark und Norwegen überfiel. Vera war von der Schlagkraft der «verbündeten» Naziarmee begeistert. Als ich einmal krankgeschrieben war und den ganzen Tag zu Hause saß, gerieten wir (ich glaube, es war anlässlich der Bombardierung holländischer Städte durch die Göring’sche Luftwaffe) heftig aneinander. Mitten im Wortgefecht sagte ich: «Eigentlich müssten wir uns scheiden lassen!» Trotzig willigte Vera ein.
Die sowjetische Ehe- und Familiengesetzgebung hat in jenen Jahren unwahrscheinliche Sprünge vollführt. Noch vor kurzem hatte man, wie schon erwähnt, eine Scheidung langfristig anmelden müssen, und sie kostete obendrein einen Haufen Geld. Im Frühjahr 1940 war es jedoch gerade wieder mal leicht gemacht worden, sich scheiden zu lassen. Noch am selben Tag fuhren wir zum Standesamt – zwei Stunden später waren wir geschieden.
Unser Leben ging jedoch weiter wie zuvor. In meinem Innern beschäftigten mich bohrende Fragen. Ich sagte mir immer wieder, dass Vera, wiewohl politisch ahnungslos, ein herzensguter Mensch, ein echter Kamerad und eine vorbildliche Mutter war. Selbstverständlich quälte mich vor allem das schlechte Gewissen gegenüber meiner Tochter Charlotte. Noch heute fühle ich mich ihr gegenüber schuldig. An sie denke ich in erster Linie, wenn ich mir vorwerfe, nahestehenden Menschen gegenüber unverzeihlich gehandelt zu haben.
Den letzten Ausschlag gab vielleicht die wie immer schwierige Wohnungsfrage. Als ich einer Sekretärin im MIFLI erzählte, dass ich geschieden sei, bot sie überraschend an, mir vorübergehend ein Zimmer bei ihrer Schwester zu besorgen. Diese habe zwei Zimmer am Arbat-Platz und sei im Sommer ohnehin auf der Datsche. Wenige Tage später fragte ich Veronika, ob sie meine Frau werden wolle.
DER KRIEG KOMMT
Ende Juni, Anfang Juli 1940 fanden die Abschlussprüfungen an der Abendschule statt. Mit ein bisschen Glück erreichte ich in allen Fächern ein «Ausgezeichnet» – in Russisch sogar als Einziger.
Zum 1. September 1940 ließ ich mich im MIFLI, wo ich, um die Verwirrung komplett zu machen, wieder fest angestellt war, als Fernstudent immatrikulieren. 1940 gab es etwa 17 Bewerber auf einen Studienplatz. Die Direktion erlaubte mir sogar, mich – nicht ganz legal – an zwei Fakultäten einzuschreiben, an der Historischen und der Literarischen. Trotzdem konnte ich, wie sich herausstellte, vier anstatt zwei Semester pro Jahr bewältigen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass ich
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