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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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habe mir aber sagen lassen, es sehe fast «europäisch» aus – mit Gärten, Blumen und richtigen Bäumen, sogar mit einer (allerdings längst stillgelegten) Kirche.  10
    In den vier Monaten, die ich in Kasachstan verbringe, ergibt sich gelegentlich die Möglichkeit, Bewohner über die Siedlungsgeschichte auszufragen. In der Regel unter vier Augen – niemand redet darüber gern. Von Andreas, einem vierschrötigen blonden Wolgadeutschen, mit dem ich oft zusammen arbeite, erfahre ich am meisten.
    Angefangen hat es im September 1931 im Zuge der Enteignung und Zwangsumsiedlung der sogenannten Kulaken, wie wohlhabende Bauern genannt wurden (wobei die Maßstäbe für die Zuordnung sehr niedrig und oft willkürlich waren). Mit der damals gerade fertigen Karaganda-Eisenbahn brachte man einige hundert Kulaken samt ihren Familien hierher. Etwa sieben Kilometer von der Quelle des Ischim (eines Nebenflusses des Irtysch) entfernt, hatte man ein großes Stacheldrahtgeviert für sie vorbereitet, das von bewaffneten Posten bewacht wurde. Hinaus konnten sie nicht, aber hinein kamen immer neue Zugänge. Schließlich befanden sich in der umzäunten Senke die Insassen von fünf Eisenbahnzügen – etwa 11   000 Menschen, alles Angehörige unterschiedlicher Nationalitäten: Russen, Ukrainer, Tataren, Wolgadeutsche und Osseter. Wahrscheinlich waren nationalistische Zwistigkeiten von den Behörden einkalkuliert. Diese Rechnung ging aber nicht auf – zu Eklats kam es nicht, auch ich habe in der Siedlung Nr.   11 keinen Nationalismus erlebt.
    Andreas, damals fünfzehnjährig, kam am 7. Oktober in der damals nur in den NKWD-Akten existierende Siedlung an. Die stärksten Männer wurden zum Ausbau der Eisenbahn geschickt. Andreas berichtete, dass nur wenige von ihnen zu ihren Familien zurückgekehrt sind.
    Die schwächeren Männer, Frauen und Kinder wurden nicht zur Arbeit eingeteilt – allerdings mangelte es ihnen nicht an Beschäftigung. Schon am nächsten Tag, dem 8. Oktober, fiel Schnee, sodass man dringend an Behausungen denken musste. Baumaterial gab es so gut wie nicht, auch kaum Werkzeug, von ein paar Schaufeln, Hacken und Hämmern abgesehen. An der Oberfläche hackten die Menschen den Boden zwar auf, die Erdlöcher darunter wurden zum Teil mit bloßen Händen gegraben. Dächer konnte man nicht bauen, weil es kein Holz gab. Zwar wurde Brot ausgeteilt, doch starben die Menschen wegen der Kälte. Wen der Frost übrig ließ, raffte der Typhus hinweg. Es gab weder Waschgelegenheiten noch Medikamente. Allein mit dem Läuseknacken war die Krankheit nicht zu bekämpfen. Die Überlebenden waren oft zu schwach, um die Toten zu verscharren.
    Als es endlich Frühjahr wurde, waren von den 11   000 Bewohnern der Siedlung noch ganze 1000 am Leben. Aus Karaganda reisten Politkommissare und Inspekteure an. Den Übriggebliebenen wurde mitgeteilt, dass sie eine Kollektivwirtschaft zu gründen hätten. Dort könnten sie durch vorbildliche Arbeit auch die Schande abwaschen, einstmals Kulaken gewesen zu sein. Der Stacheldraht fiel, langsam bildete sich ein Verwaltungsapparat heraus. Kommandanten richteten sich in den Siedlungen als kleine Statthalter ein und schikanierten die rechtlose Bevölkerung. Es kam vor, dass Kommandanten ermordet wurden, was jedoch abschreckende Gewaltorgien nach sich zog.
    Dass die sogenannten Kulaken einfach fleißiger waren als die Dorfarmut, hatte ich früher für eine Lüge des Klassenfeindes gehalten. Angesichts dessen, was diese Menschen hier trotz widrigster Bedingungen geleistet haben, wurde diese Überzeugung erschüttert. Hauptsächlich wird Weizen angebaut. Der Boden in Karaganda ist dafür bestens geeignet, nur fehlt es an Wasser. Dennoch brachte der Kolchos der Siedlung Nr.   11 Jahr für Jahr immer bessere Ernten ein. Die Leute kamen allmählich auf die Beine. Bald hatte jede Familie ein Lehmhaus, das mit einem Gemisch von Mist und Steppengras beheizt wird. Berge dieser Mischung liegen vor jedem Haus. Auch der Seuchen wurde man Herr. Jetzt gibt es medizinische Punkte in jeder Siedlung. Fast jeder Haushalt besitzt eine Kuh, oft auch eine Ziege oder ein Schaf. Am besten gedeihen die privaten Geflügelwirtschaften, so gibt es hier – mitten in der Steppe! – in jedem Haushalt 50 oder mehr Gänse und Enten. Dieses Kuriosum geht auf die sowjetische Steuergesetzgebung zurück, die die Wirtschaftsentwicklung typischerweise bremst, statt sie zu fördern. In Kasachstan, wo ideale Bedingungen für die Schafzucht

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