Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Wirtschaft. Einmal werden wir von unseren Wirtsleuten sogar zum Hammelessen eingeladen.
Nach der Zuweisung der Quartiere erfolgt die Einteilung zur Arbeit. Eigentlich braucht uns der Kolchos nicht – während wir das Brot, das für die geleisteten Arbeitseinheiten ausgegeben wird, dringend brauchen. In meiner Brigade arbeiten außer mir: der Leningrader Student Artur Karlowitsch, unser Jungvermählter, der junge Keßler und ein Ingenieur, der Fedja Reppich heißt, kürzlich noch einen Lehrgang als Reserveoffizier absolviert hat und dementsprechend militärisch, aber nicht arrogant auftritt. Wir heben Mistbeete aus, säubern Pferdeställe und spezialisieren uns auf die Reinigung stillgelegter und arg verschmutzter Brunnen. Das wäre annehmbar, wenn man entsprechende Arbeitskluft hätte, aber die fehlt. Immerhin bekommen wir pro Tag ein Kilo Brot.
Veronika arbeitet im Kolchosspeicher. Zusammen erhalten wir täglich fast die Hälfte eines ausgezeichneten Fünf-Kilo-Brots. Da unsere Bargeld-Reserve auf 100 Rubel geschrumpft ist (Gehalt soll es im Frühjahr geben), beschließen wir, auf das Kantinenessen zu verzichten. Die Suppe dort muss man nämlich bezahlen. Zudem ist sie – im Gegensatz zur Suppe am Ankunftstag – schlecht, voller angefaulter Kartoffeln und Kohlblätter. Im Kolchosspeicher werden regelmäßig Kartoffeln und Gemüse aussortiert: Das Angefaulte kommt in die Kantine, das Gute bleibt liegen – bis es zu faulen anfängt.
Öfter kochen wir ein paar (gute) Kartoffeln, die Veronika – wie die anderen Frauen – unter der Schürze aus dem Speicher mitbringt. Auch kommen uns jetzt Kleidung und Schuhe zugute, die wir in Moskau gekauft haben: Diese «Reichtümer» erregen das Interesse der Bauern. Hin und wieder tauschen wir dafür Fleisch oder ein Stück Butter ein. Die wichtigste Tauschaktion bringt jedem von uns ein Paar neubesohlter Filzstiefel ein, über die wir uns, als der Winter hereinbricht, nicht genug freuen können.
Dennoch sind wir besorgt. Unsere Zukunft liegt im Ungewissen, wir sind von der Willkür der Behörden abhängig. Alltägliche Sorgen machen sich breit: Wird man uns auch in den Wintermonaten unsere Brotration bewilligen? Was werden wir tun, wenn wir nichts mehr zum Tauschen haben? Reicht unsere Kleidung aus, um uns vor der Kälte zu schützen, über die man Schlimmes erzählt? Man berichtet von Schneestürmen, in denen man sich tagelang nicht einmal bis zu dem 30 oder 50 Meter entfernten Brunnen hinauswagen kann. Die Eingänge der Häuser sind in verschiedenen Himmelsrichtungen angelegt, weil die Bewohner einander freischaufeln müssen, je nachdem, aus welcher Richtung der Schnee herangeweht wird.
Es stellt sich heraus, dass es keine gute Idee war, mit Mutter und Tochter König zusammenzuziehen. Die Alte spielt sich als Oberhaupt unseres kleinen Gemeinwesens auf. Sogar ihre dreizehnjährige Tochter maßt sich an, Veronika Vorschriften zu machen. Ich rede mit der Alten Fraktur, doch hilft das wenig.
Der Zuneigung zwischen Veronika und mir kann das alles nichts anhaben. Auch die fernere Welt ist für uns nicht gänzlich verschwunden. Oft sprechen wir über den Krieg, über Moskau, über ihre Mutter, die Schrecknisse der Vorkriegszeit, die Verhaftungen, die – wie wir es jetzt selbst erleben – Leute brutal aus dem Leben gerissen haben. Wir sprechen aber auch über Nekrassow, Schiller oder die alten Griechen. Abends gehen wir hinaus in die Steppe, blicken aus der Ferne auf die nur spärlich beleuchtete Siedlung, die schon nach einem kleinen Spaziergang wie eine entfernte Insel erscheint.
Die kasachische Landschaft entbehrt nicht der Reize. Hier, nördlich der Hauptstadt Karaganda, befindet man sich inmitten einer gewaltigen Ebene, die von dunkelvioletten Gebirgen eingerahmt ist. Die Steppe wirkt wie ein graues, sich bis an die Bergketten erstreckendes Meer. Das Verrückteste: Sie bewegt sich! Das Steppengras, das in kugelförmigen Ballen wächst, friert nach den ersten Frösten ab und rollt, vom nie erlahmenden Wind getrieben, über die flache Erde. Myriaden von gleich großen Bällen eilen über die Ebene dahin, manchmal stockend, dann wieder in Fahrt kommend, unbekannt woher, unbekannt wohin. Perekati polje (Roll übers Feld) nennt man dieses Gras auf Russisch. Am Rande der Siedlung türmen sich die struppigen Kugeln, von Gebäuden oder Erdwällen aufgehalten, zu wuchtigen Bergen. Sie sacken langsam in sich zusammen, werden dann von den Menschen zerstampft und mit Mist zu
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