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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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herrschen, müssen schon für zwei Schafe außerordentlich hohe Steuern gezahlt werden, während das Wassergeflügel steuerfrei ist.
    Aber auch wenn keinerlei Teiche oder Tümpel zur Verfügung stehen, zu fressen haben die Gänse und Enten mehr als genug. Sie baden förmlich im Getreide. Im letzten Jahr war die Ernte so gut, dass der Weizen, den die Kolchosbauern pro Arbeitseinheit bekommen, in riesigen, oft die Schornsteine überragenden Haufen auf der Straße liegt. Speicher und Schuppen können wegen des Holzmangels nicht errichtet werden. Zur Holzbeschaffung in waldreiche Gegenden zu fahren ist den «Spezialausgesiedelten» untersagt. Sie dürfen nicht einmal ihr Getreide zum Markt bringen – da müssten sie bis zur Eisenbahn fahren, die liegt aber außerhalb der für sie erlaubten Zone (frei bewegen dürfen sie sich bis zum weitesten Kolchosfeld, das 18 Kilometer entfernt ist – für Kasachstan keine Distanz). Nur ein paar wenige haben eine Sondergenehmigung für die Fahrt zur Bahnstation, um das vom Staat geforderte Kontingent abzuliefern und die Dinge zu beschaffen, die die Siedlung nicht selber herstellen kann: Salz, Seife, Petroleum, vielleicht auch mal ein paar Kilo Zucker. So liegt der Weizen bergeweise unter freiem Himmel, während im kriegsgeschüttelten Land das Brot rationiert wird.
    So etwa sieht das Leben hier zehn Jahre nach der Zwangsumsiedlung aus – als wir hier eintreffen. Nach der ersten Nacht im Klub werden wir in die einzelnen Häuser der Siedlung eingewiesen. Wer von den Ex-Kulaken zwei Zimmer hat, muss eins an die Ankömmlinge (jeweils drei bis vier Personen) abtreten. Gefragt wird er nicht. Dennoch begegnen uns die Wirtsleute fast freundlich. Nur manchmal hört man neidische Ausrufe: «Ach, hätte man uns damals so empfangen!»
    Die wenigen von uns, die einigermaßen Deutsch können, haben Glück, wenn sie bei Wolgadeutschen einquartiert werden. Man spricht hier ein veraltetes Schwäbisch, das schwer zu verstehen ist. Dennoch ist, wer sich deutsch verständigen kann, willkommen.
    Allerdings werde ich von den Wolgadeutschen nur bedingt als Landsmann anerkannt. «Deutschländer»  11 – aus Deutschland kommende Deutsche – sind ihnen nicht geheuer. Davon gibt es, außer Mutter und Tochter und mir, noch zwei in der Siedlung – Jule Gebhardt und Ludwig Elfinger. Außerdem soll es im Rayon noch zwei geben: einen Sohn Karl Liebknechts und den Sohn von Fritz Platten. Was Ersteren betrifft, so handelt es sich wahrscheinlich, wie ich später ausmache, um einen Neffen von Liebknecht. Von Plattens Sohn, der eigentlich Schweizer ist (aber solche Unterschiede sind hier belanglos), höre ich 25 Jahre später über Bekannte meiner Mutter, dass er noch immer in Kasachstan lebt.
    Da es für zwei Leute kein Zimmer gibt, müssen Veronika und ich mit jemanden zusammenziehen. Ich frage die Neuköllner Kommunistin, die Genossin König, ob sie und ihre Tochter Isolde mit uns ein Zimmer teilen wollen. Sie ist einverstanden, und wir bekommen ein Zimmerchen im Hause des Osseters Kasbekow. Ich baue aus Decken und Stroh zwei Schlafstellen, eine für Frau König und Isolde, eine für Veronika und mich, stelle einen Koffer als Tisch auf, einen zweiten als Küchenschrank. Für Sitzgelegenheiten gibt es ohnehin keinen Platz. Immerhin haben wir (das gibt es hier nur in fünf oder sechs Häusern) einen Holzfußboden, auf dem erheblich weniger Flöhe herumspringen als auf den gewöhnlichen Erdböden. Dennoch leiden wir keinen Mangel an diesen Tierchen.
    Kasbekow ist ein hagerer Siebziger, der immer in Tscherkessentracht herumläuft (die aufgenähten Patronentaschen sind jedoch leer). In Ossetien war er ein Stammesfürst, allerdings war dort, wie man sagt, jeder Fünfte ein Fürst. Jetzt arbeitet er auf der Mühle als Nachtwächter. Ein Quäntchen Humor hat er sich bewahrt. «Früher», sagt er schmunzelnd, «hatte ich 12   000 Schafe, vielleicht auch 15   000 – so genau wusste ich das nicht. Jetzt habe ich eins, aber das ist in Moskau registriert.»
    Kasbekows Frau führt die Wirtschaft, sein Sohn Taimuras ist Kolchosbuchhalter, seine Schwiegertochter, eine bildhübsche Orientalin, unterrichtet in der Schule. Demnach sind wir bei der Dorfintelligenzija gelandet. Das fünfte Familienmitglied ist ein schwarzäugiges Enkelkind. Die Kasbekows sind freundlich zu uns. Sie geben uns wertvolle Ratschläge für den bevorstehenden Winter, leihen uns einen Eimer zum Wasserholen, helfen uns mit Kleinigkeiten in der

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