Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Heizmaterial verarbeitet.
Unbeschreiblich der Himmel, besonders in den frühen Morgen- und den späten Abendstunden. Beeindruckt von der Pracht des Sonnenuntergangs vergessen wir für Augenblicke unsere Situation und den ganzen Widersinn, der sich unserer bemächtigt hat.
Später, nachdem der Schnee gefallen und die Quecksilbersäule auf minus 25 und 30 Grad gesunken ist, erleben wir die Faszination der verdreifachten Sonne. Das ist eine optische Täuschung, die ich mir bis heute nicht erklären kann. Etwa 20 Bogenminuten links und rechts vom zentralen Himmelsgestirn leuchten noch zwei Sonnen, fast so hell wie die wirkliche. Bei klarer Frostnacht wartet auch der Mond mit zwei Geschwistermonden auf. Selbst der Himmel ist hier ein anderer als in Europa.
DIE OBRIGKEIT
Auf 1500 Unfreie in unserer Siedlung kommen anderthalb freie Bürger. Der halbfreie Bürger (richtiger: die halbfreie Bürgerin) ist die Ehefrau des Kommandanten, formal zwar frei, doch dem allmächtigen Ehemann bedingungslos untertan.
«Allmächtig» ist keine Übertreibung. Hier ist der Kommandant unbeschränkter Herr und Gebieter über alles und alle, einziger Beamter und einziges Parteimitglied im Umkreis. Er verordnet und setzt seine Verordnungen in die Praxis um, verwirklicht die Einheit von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion. Zwar werden die Gesetze 2500 Kilometer weiter westlich, im fernen Moskau, gemacht, doch lassen sie ihm ausreichend Spielraum für eigenwilliges Handeln.
Die Zeit, da Kommandanten erschlagen wurden, ist lange vorbei. Die Ex-Kulaken sind zahm geworden, selbst die Osseter. Allerdings haben sich auch die Kommandanten geändert. Früher kam es vor, dass sie jemanden, der ihnen widersprach, kurzerhand über den Haufen schossen. In den ersten Jahren befahlen die – damals zumeist ledigen – Kommandanten manchmal, ihnen ein Mädchen für die Nacht zu bringen. Dies weckte besonders bei den Ossetern gefährliche Rachegefühle, sodass die ossetischen Mädchen schon bald dieser «Naturalsteuer» entgingen. Jetzt leisten sich nur höhere Chargen einen ähnlichen Luxus.
Der Kommandant ernennt aus der Mitte seiner Untergebenen einen Gehilfen – einen Speichellecker, der seine Schicksalsgenossen womöglich noch schlimmer schikaniert als der allmächtige Chef. Geburten, Hochzeiten, Todesfälle werden in der Kommandantur registriert. Ebenda erfolgt die Ausgabe beziehungsweise der Entzug von Passierscheinen, die zur Fahrt nach der Bahnstation oder ins Rayonzentrum berechtigen. Außerdem werden der Kolchosvorsitzende und die Brigadiere vom Kommandanten bestimmt.
Der Kommandant hat entweder keine oder nur eine unbedeutende Wirtschaft, die seine aus der Öffentlichkeit ausgeschlossene Frau mehr aus Langweile betreibt. Er lässt sich vom Kolchos versorgen, ordnet an, was auf seinem Hof abzuliefern ist, bezahlt für nichts. In der Verkaufsstelle der Siedlung lässt er alles anschreiben, ohne je an eine Begleichung der Schuld zu denken. Dem Verkäufer, der natürlich auch ein «Spezausgesiedelter» ist, bleibt nichts übrig, als seine Leidensgenossen zu betrügen, um die Schulden des Kommandanten auszugleichen.
Dass der Kommandant der einzige Waffenträger im Ort ist, versteht sich von selbst. Das hat auch praktische Bedeutung beim Kampf gegen die Wolfsplage. Von Zeit zu Zeit geht der Kommandant auf Wolfsjagd und schickt dabei ein gutes Dutzend junger Leute als Treiber in die Steppe. Allerdings scheinen die Wölfe zu wittern, wenn der Kommandant betrunken ist. Einmal, im Januar, als der Kommandant völlig blau ist, erlebe ich einen Überfall der hungrigen Räuber auf die Siedlung. Sie sind unheimlich groß und fast schwarz. Gemächlich stolzieren sie durch die Straßen, beschnuppern die Hütten und heulen den Mond an.
Vor allem ist die Kommandantur aber das Zentrum der Einschüchterung und des Zuträgertums. Nicht nur, dass die Denunzianten dort ihre Sonderaufträge empfangen und ihre Spitzelberichte abliefern müssen, dorthin werden auch die Siedlungsbewohner zu Allerweltsverhören bestellt, bei denen man ihnen Strafen androht und sie erpresst.
Doch steht auch der Kommandant nicht außerhalb der sowjetischen Hierarchie. So wie die ganze Siedlung vor ihm zittert, zittert er selbst vor seiner Obrigkeit – dem «operativen Bevollmächtigten» der Abteilung für Inneres in der Rayonverwaltung, kurz oper ( operupolnomotschennyj ) genannt. Er ist die personifizierte Staatsgewalt und der einzige Funktionär, der je aus der Außenwelt
Weitere Kostenlose Bücher