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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Wein-Degustator). Der andere, Shenja, war Direktor der Bakuer Großbrauerei. Aus seinem Lebensbericht erfahren wir, dass er, einst ein verwahrloster Jugendlicher ( besprisornik ), vom Kollektiv der Brauerei, in der er anfangs als Laufbursche arbeitete, adoptiert wurde, dann eine Delegierung zum Studium erhielt und schließlich peu à peu zum Chef des Betriebes aufrückte. Er erzählt, er habe in Baku, wo im Sommer sengende Hitze herrscht, täglich bis zu 20 Liter Bier getrunken. Man braucht ihn nur anzusehen, um ihm Glauben zu schenken. Die unfreiwillige Entziehungskur, die mit der Aussiedlung begann, zeitigt verheerende Folgen: Bald ist der füllige Mann zu einem faltigen Sack zusammengeschrumpft. Anfang 1943 treffe ich ihn im Arbeitslager als Barackenwart ( dnjewalnyj ) wieder, aber er ist kaum in der Lage, den Ofen zu heizen oder die zum Trocknen aufgehängten Sachen zu ordnen. Wenig später verstirbt er lautlos.
    Wie ich später erfahre, lebt auch Boris Borissowitsch nicht mehr lange. Nachdem man die letzten jungen Männer (nämlich uns Deutschstämmige) aus der Siedlung fortgebracht hat, kommt er in keiner Brigade mehr unter. Die vom harten Überlebenskampf geprägten Bäuerinnen wollen den an Atemnot leidenden Professor nicht haben. Seine Versuche, als Schreiber oder Hilfsbuchhalter im Kolchos Arbeit zu finden, scheitern schon vorher am Einspruch des Kommandanten. Auch seine Bewerbung als Lehrer in der Rayonsschule hat man abgelehnt. Eine Zeitlang kann er sich über Wasser halten, indem er verschiedene Luxusgegenstände, die er von seinen Dienstreisen aus der ganzen Welt mitgebracht hat, gegen Essen und Heizmaterial tauscht. Offenbar hat er schon in Moskau kleine «Geschenke» verteilt, denn er hat weitaus mehr Gepäck mitführen dürfen, als erlaubt war. Aber irgendwann ist diese Quelle erschöpft. Im Januar 1942 stirbt seine einundneunzigjährige Mutter, eine vornehme Hannoveranerin, die schon 1890 mit ihrem Mann, einem Ingenieur, nach Moskau kam und noch immer «über den spitzen Stein stolpert». Bald darauf wird Boris Borissowitsch von seiner Frau verlassen, die sich mit dem auf einem Bein lahmenden Brigadier des Kartoffelspeichers zusammentut. Zwar kann sie auf diese Weise dem Hunger entgehen, aber sehr bald beginnt der alte Kulak sie, sobald er betrunken ist, zu verprügeln. Als Nadjeshda Wassiljewna sich voller Scham entschließt, in die Wohnung ihres Mannes zurückzukehren, findet sie ihn tot vor. Sie sieht keinen anderen Ausweg, als sich selbst zu erhängen.
    Doch zurück zur Siedlung Nr.   11. Mitte Dezember haben wir einen Eisspeicher mit Eisblöcken gefüllt. Am zweiten Speicher wird noch gebaut, sodass wir unsere Arbeit einstellen müssen. Ich komme zu den Fuhrleuten, fahre ein paar Tage mit einem Ochsengespann Mist von den Pferdeställen zu den Treibhausbeeten und werde dann den Pferdeknechten zugeteilt. Da lerne ich Pferde aufzäumen und einspannen. Die Steppenpferde sind klein (fast eine Mischung von Pony und Normalpferd), aber unwahrscheinlich kräftig und ausdauernd. Ich erhalte einen Passierschein für Fahrten nach Schokai. Einmal treten wir die Rückfahrt von der Eisenbahnstation bei Sonnenschein an, geraten dann aber in einen Schneesturm. Der Wind peitscht den feinkörnigen Schnee in die Höhe und jagt ihn über die Ebene. Es wird dunkel. Totale Finsternis senkt sich über die Steppe, und inmitten der Schneewolken sehen wir nichts mehr. Doch die Pferde kennen sich aus. Unbeirrt laufen sie vorwärts und bringen uns zum Pferdestall. Wir schirren ab, striegeln und füttern die verschwitzten Tiere, trauen uns aber nicht, vom Pferdestall nach Hause zu gehen.
    Um die Weihnachtszeit herum müssen wir (was nichts mit Weihnachten zu tun hat) etwas für die Soldaten an der Front spenden. Da ich nichts anderes mehr habe, gebe ich die vorletzten Wollsocken weg. Bald werde ich wahrscheinlich auf Fußlappen umsteigen müssen. Vorsorglich erlerne ich schon jetzt die Wissenschaft des Fußlappenwickelns.
    Sonst hören wir wenig vom Krieg. Zeitungen bekommen wir nicht, und Rundfunkempfänger waren den Ex-Kulaken ohnehin nicht erlaubt. Niemand weiß, was an den Fronten passiert und wie es im Lande aussieht. Letzte offizielle Information war die Stalin-Rede Anfang November, die vor der zusammengetrommelten Bevölkerung der Siedlung verlesen wird. Wenn ich nicht irre, ist es die Verfassungsfeier, auf der man uns die schon einen Monat zurückliegende Rede Stalins vorliest. Zu dieser Festveranstaltung hat man

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