Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Leute zusammen. Bis zum stan (so heißt der Standort der Dreschmaschine) sind es 15 Kilometer. Deswegen wohnen wir die Woche über dort. Als Behausung dient ein Lehmschuppen ohne Fenster, in dem sich die hier arbeitenden Ex-Kulaken schon eingerichtet haben. Für uns will der Brigadier anfangs nicht einmal Stroh herausrücken – es ist wertvolles Heizmaterial. Nach einem heftigen Wortwechsel bewilligt er uns aber doch welches. Schon beim Einrichten der Schlafstätten piesacken uns die Flöhe.
Schichtbeginn ist um zwei Uhr nachts. Vor Arbeitsantritt gibt es kostenloses Essen – die Pellkartoffeln werden direkt auf den Tisch geschüttet. Salz fehlt allerdings. Die Kulaken schieben uns widerwillig ihr Salz zu. Sie haben selbst nicht genug. Dafür sind sie ausreichend mit Milch, Butter, Speck und Eiern versorgt – wovon sie uns jedoch nichts abgeben.
Nach den Pellkartoffeln drückt man mir eine Heugabel in die Hand, mit der ich Getreidegarben zur Dreschmaschine hinaufheben muss, verflucht schwer. Ununterbrochen wirft man mir neue vor die Füße. Ich muss mich sputen, um nicht im sich auftürmenden Garbenberg zu versinken. Die Arme schmerzen, dann werden sie gefühllos. Nur diese eine Garbe noch hochheben … dann diese … und diese … Bei Sonnenaufgang ist es kalt, aber mir läuft der Schweiß in Strömen am Körper hinab. Wenn man nur etwas zu trinken hätte! Mein «Abnehmer» über mir trinkt Milch aus einer Kanne. Mir weist er jedoch einen großen Blechkanister zu, fast einen Meter hoch, schwer zu heben, noch schwieriger, ihn an den Mund zu führen. Endlich Wasser, aber – pfui Teufel! Mit Benzingeschmack und gefroren. Man muss rütteln, um kleine stinkende Eisstückchen in den Mund zu bekommen.
Gegen acht oder zehn Uhr (ich habe den Zeitmaßstab gänzlich verloren) gibt es erneut Pellkartoffeln. Brot ist noch immer nicht da. Ich würge ein paar Knollen runter. Als es wieder an die Arbeit geht, kann ich kaum aufstehen. Trotzdem greife ich zur Heugabel. Ich habe das Gefühl, dass ich im nächsten Moment zusammenbreche, aber ich stehe und hebe, hebe …
Die Ex-Kulaken, die an meiner Dreschmaschine arbeiten, scheinen keine Müdigkeit zu spüren. Um sechs Uhr abends wird zu einer halbstündigen Pause geblasen. Wieder Pellkartoffeln und nun auch Brot. Aber ich kriege keinen Bissen hinunter. Völlig erschöpft. Dennoch muss ich wieder antreten – eine Schicht dauert 24 Stunden! Es geht nicht mehr. Die erste Garbe fällt herunter, die zweite … Unter Flüchen werde ich abgelöst: Versager! Die Schicht ist noch nicht zu Ende. Ich bekomme eine leichte Arbeit: Garben binden. Auch das bewältige ich nur mit äußerstem Kraftaufwand. Um zwei Uhr nachts, als die Ablösung antritt, kann ich nicht einmal mehr erleichtert aufatmen.
Weder Pellkartoffeln noch Brot können mich halten. Ohne jemandem etwas zu sagen, schleiche ich mich aus dem stan davon. Das Blut pocht in meinem Schädel. Habe ich Fieber? Oder ist es eine Art Geistesverwirrung, die die Siedlung Nr. 11 jetzt als ersehnte Heimat erscheinen lässt? Trotz der Müdigkeit schreite ich zielstrebig über die Steppe.
Kurz vor Morgengrauen bin ich zu Hause . Veronika ist schon aufgestanden. Als ich eintrete, hält sie eine Nagelschere in der Hand und schneidet kleine Papierblüten aus. Diese Blüten gehören zu einem Blumenstrauß, den sie aus Gräsern zusammengestellt hat. Seltsam – was bedeutet das? Veronika gratuliert. Richtig! Ich habe heute Geburtstag, 24 werde ich. Veronika lächelt mich an. Für den Augenblick wäre alles gut, wenn nicht die alte König schon wieder vor sich hin meckern würde: «Nur Flausen im Kopf … Auf Sterbeetat gesetzt, aber schnippelt Papierblümchen …»
Veronika geht zur Arbeit, mich übermannt der Schlaf. Mittags werde ich geweckt. Man versucht, mich zur Rückkehr in den stan zu überreden. Sauberes Trinkwasser und Salz zu den Pellkartoffeln werden versprochen. Aber ich bleibe bei meiner Weigerung.
Am Nachmittag gehe ich zu meiner alten Brigade, die gerade damit beschäftigt ist, den Schlamm aus einem seit Jahren stillgelegten Brunnen zu hieven. Aber Artur und Fedja erklären mir, dass ein neuer Mann bereits meine Stelle eingenommen habe. Doch ich vermute, dass dies nicht der wirkliche Grund für die Absage ist. Nicht etwa, dass ich, wie man nach meinem Dreschmaschinen-Debakel argwöhnen könnte, die Arbeit nicht bewältige – da bleibe ich keineswegs hinter den beiden zurück. Artur und Fedja sind offenbar froh,
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