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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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Rauch, der kerzengerade aus den Schornsteinen der Siedlung Nr.   11 in den Himmel steigt. Wie fremd war mir dieser Ort vor drei Monaten! Jetzt blicke ich wie auf ein Stück Heimat zurück.
    Der Klub in Ossokarowka ist schon mit Deutschstämmigen aus anderen Siedlungen überfüllt. Die Klubs hier sind generell Umschlagplätze für Menschentransporte. Wir werden in einen endlos langen Schuppen einer Möbelfabrik eingewiesen. Entlang einer Längswand hat man eine lange Pritsche gezimmert, auf der die Ankömmlinge aus vier oder fünf Siedlungen Platz haben, an die 300 Leute.
    Erster Befehl: Antreten zur ärztlichen Untersuchung. Die ist aber nur Formsache – niemand wird zurückgestellt. Zweiter Befehl: Abmarsch in die Sauna – waschen, Kopf scheren, Schamhaar rasieren.
    Im Marschblock dann zurück in den Schuppen, der plötzlich als Kaserne bezeichnet wird. Überhaupt wird ein bisschen Armee gespielt. Wir werden in Züge (jeweils 12 bis 15 Mann) und Kompanien (zu vier Zügen) eingeteilt. Die übergeordnete Einheit, die die ganze Schuppen-Belegschaft umfasst, firmiert aber nicht als Bataillon, sondern als Rotte.
    Mein Zugführer heißt Wirtz, ein Mann aus Baku, dem man, auch wenn er aus der Stadt kommt, seine bäuerliche Herkunft noch ansieht. Er ist wetterfest gekleidet: Wattejacke, Wattehosen, fellgefütterte Fausthandschuhe, neue Filzstiefel. Ich selbst trage nur einen gummierten Regenmantel, den ich über einen dicken, aber ungefütterten Herbstmantel ziehe, schlechte Wollhandschuhe und ramponierte Filzstiefel.
    Kompaniechef ist Fedja Reppich. Vor versammelter Mannschaft sieht er durchaus wie ein Offizier aus, hat auch die entsprechende Stimme. Die Rotte kommandiert ein anderer Ingenieur aus Moskau, der aber nicht aus unserer Siedlung kommt – Wladimir Genrichowitsch Ruppel. Er sieht wie ein Mops aus. Später, als ich ihn näher kennenlerne, schäme ich mich dafür, mich in Ossokarowka über sein Äußeres mokiert zu haben. Er erweist sich als hochgebildeter und integerer Mann.
    Abends stellt sich allerdings heraus, dass Ruppel bloß Gehilfe des Rottenkommandeurs ist. Jetzt kommt der eigentliche Kommandeur, ein Leutnant. Er lässt uns antreten, nimmt uns eigenhändig die Personalausweise ab und hält eine patriotische Ansprache. Mehrmals erwähnt der Leutnant das Kriegsrecht. Bausoldaten stünden unter Kriegsrecht wie andere Soldaten auch. Das unerlaubte Verlassen der Kaserne werde nach Kriegsrecht geahndet, der unsachgemäße Umgang mit Staatseigentum ebenfalls. Im Übrigen sei am Geländetor ein Posten aufgestellt (ein bewaffneter, uniformierter Rotarmist). Morgens und abends gebe es einen Appell, tagsüber werde man sich um unsere militärische Ertüchtigung kümmern. «Alles für die Verteidigung des Vaterlandes! Es lebe der Genosse Stalin!»
    So beginnt für uns ein Kasernenleben – sechs Uhr Wecken, sieben Uhr Antreten und Zählung, danach bis zwölf Uhr Marschieren und Exerzieren, von zwölf bis fünfzehn Uhr Freizeit, danach wieder Marschieren, Abendappell, Freizeit und ab zweiundzwanzig Uhr Bettruhe.
    Unsere «Truppe» setzt sich aus sechs Kategorien von Leuten zusammen. Gemeinsam ist allen, dass sie deutschstämmig sind. Die erste Kategorie sind die Söhne der bereits vor zehn Jahren nach Kasachstan deportierten wolgadeutschen Ex-Kulaken. Die zweite Kategorie sind die erst vor wenigen Wochen aus dem Wolgagebiet ausgesiedelten deutschstämmigen Bauern. Mit ihnen treffe ich hier erstmals zusammen. Obwohl sie keine ehemaligen Kulaken sind, ähneln die Neuankömmlinge diesen sowohl in der Sprache als auch der Mentalität. Sie glauben an Kobolde und Hexen, sind davon überzeugt, dass Läuse und Wanzen nicht von ihresgleichen abstammen, sondern aus Dreckpartikeln entstehen, und können – was ich erst später bemerke – in den meisten Fällen gerade mal ihren Namen schreiben.
    Dennoch unterscheiden sich die Söhne der 1931 Ausgesiedelten grundlegend von den Ausgesiedelten des Jahres 1941. Erstere sind nämlich satt, Letztere hungrig. Die Ex-Kulaken sind die Einzigen hier, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht haben. Vor zehn Jahren wurden sie aus ihren Wolgadörfern vertrieben, während sich die zurückgebliebene Dorfarmut über ihr Vieh und ihre Vorräte hermachte. Jetzt packen sie Mehl, Hirse, Speck und Zwieback aus, während ihre einstigen Enteigner zusehen müssen.
    Bei der Abfahrt in Siedlung Nr.   11 haben wir anderen noch über die Ex-Kulaken gelacht, als sie riesige, auf Kufen genagelte

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