Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
Vom Netzwerk:
Kisten mit Verpflegung bepackten. Sie lachten ihrerseits: Wir wüssten noch nicht, was es bedeute, zu Bauarbeiten mobilisiert zu werden.
    Die dritte Kategorie von Leuten in unserer Rotte sind vor einigen Wochen ausgesiedelte Bauern, die sich Kuibyschew-Deutsche nennen. Sie kommen aus dem Rayon Melekess des Kuibyschewer Gebiets. Dorthin kamen ihre Vorfahren vor 80 Jahren auch schon als Ausgesiedelte. Zuvor hatten sie im russischen Kongresspolen gelebt, wurden aber nach dem Aufstand von 1861 beschuldigt, die Aufständischen unterstützt zu haben, und deshalb nach Osten verfrachtet. Polnische Brocken sind aber jetzt aus ihrer Sprache verschwunden. Dafür haben sie viele Vokabeln von ihren neuen Nachbarvölkern übernommen – von Mordwinen, Tschuwaschen und Tataren, vor allem aber von Russen. Obwohl sie großen Wert auf ihr Deutschtum legen, stellt ihre Sprache ein höchst amüsantes Gemisch dar. Sie fragen beispielsweise: «Hast du dein Brot schon gepolutschajet ?»
    Auch bei der vierten Kategorie handelt es sich um frisch ausgesiedelte Landbewohner. Sie stammen aus dem ehemaligen Taurischen Gouvernement, wo sie in der Nähe von Askania Nowa, dem deutschen Halbstadt, lebten. Sie sind Mennoniten. Während der Kollektivierung konnten zahlreiche Angehörige dieser Glaubensgemeinschaft nach Südamerika und Kanada auswandern. Als dann der Exilantenstrom von der Sowjetregierung gestoppt wurde, mussten die Übrigen in der Südukraine bleiben. Neben den kaukasischen Weinbauern gehörten die Mennoniten zu den wohlhabendsten Bauern in Russland. Dementsprechend hoch ist auch ihr Bildungsniveau. Analphabeten gibt es unter ihnen nicht. Sie sprechen durchweg Hochdeutsch, außerdem das Platt ihrer holländisch-friesischen Vorfahren und beherrschen alle ein leicht ukrainisch gefärbtes Russisch. Ihre Vornamen sind alttestamentarischen Ursprungs, und die meisten von ihnen können mit einer ganzen Reihe von Bibelsprüchen aufwarten.
    Die fünfte Kategorie sind die Baku-Deutschen, die sechste sind wir, die aus Moskau Ausgesiedelten. Das Wort wir ist hier allerdings fehl am Platz, weil ich selbst eigentlich zu keiner Kategorie gehöre. Ich bin Außenseiter, wie ich es mein Leben lang war. Als nicht dazugehörig werde ich von den meisten schon deshalb eingestuft, weil ich Teile meiner Freizeit mit Lesen verbringe.
    Seit jemand ein Schachspiel aufgetrieben hat, spiele ich auch öfter mit Fedja Reppich eine Partie. Obwohl ich meistens verliere, bin ich der einzige akzeptable Partner für ihn. Beim Spiel – oder richtiger beim Warten auf das Freiwerden der Figuren – erfahre ich einiges über ihn. Er hat ein paar Jahre in Panzereinheiten gedient, war zuletzt Militäringenieur dritten Ranges, Kira ist seine zweite Frau, Kinder hat er nicht.
    Der junge Keßler, der mir seinerzeit von seinem Einsatz im Sowjetisch-Finnischen Krieg erzählt hat, liegt auf dem Schlafplatz neben mir. Nachdem er in den ersten Tagen fachmännisch über Minen, Scharfschützen und Geschütze gesprochen hat, eröffnet er mir unvermutet, dass er nie in Karelien war und dort weder Front noch Hinterland gesehen hat. Angeblich wollte er nur mal hören, was die Leute so sagen, wenn ein verdienter Kriegsheld verbannt wird. Ein Provokateur, der uns «feindliche» Äußerungen entlocken will?
    Nicht weit von uns liegt Aue, ein junger Kerl aus Baku, der unwahrscheinlich dreckig ist. Deutsch kann er nicht, umso besser beherrscht er russische Flüche. Mit ihnen spickt er seine Sauf- und Hurengeschichten. Wenn jemand (und sei es am anderen Ende des Saales) eine selbstgedrehte machorka anraucht, schreit er sofort «vierzig», was heißen soll, dass er 40 Prozent des «Ziegenbeinchens»* für sich beansprucht. Andere schreien «zwanzig», wieder andere «zehn» oder gar «fünf». So geht der Stummel, immer mehr besabbert, von Mund zu Mund, bis sich der Letzte an ihm die Fingerspitzen verbrennt. Doch bald hat niemand mehr etwas zu rauchen. Besser gesagt, die wenigen, die noch etwas haben, ziehen sich, wenn sie qualmen wollen, aufs Klo zurück.
    Unansehnlicher als Aue ist ein Wolgadeutscher namens Tamplon. Soweit ich das beobachten kann, wäscht er sich nie. Er ist katholisch und gehört zur finstersten Sorte der Kulakensöhne. Er ist schweigsam, gibt aber manchmal schlimme Geschichten über seinen Vater, der in den Bergwerken von Karaganda umgekommen ist, zum Besten. Sie enden stets mit der Prophezeiung: «Jesses, Maria und Joseph, so verrecken wir auch.»
    Einige bringen es

Weitere Kostenlose Bücher