Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
wer geholt wird und wie lange er in der Kommandantur festgehalten wird. Erst am nächsten Morgen werden wir erfahren, dass zwei der Verhörten nicht mehr nach Hause gekommen sind. Andreas sagt: «Die sieht man nie wieder.»
Spät am Abend gehen Veronika und ich noch hinaus in die Steppe. Bedrückend, dass da in einem Amt ein Papier liegt, dass uns als Spitzel ausweist. Was hätten wir tun sollen? Klar ist, dass wir niemanden bespitzeln oder verraten werden. Wir beschließen, erst einmal gar keinen Monatsbericht abzugeben, es auf eine Mahnung ankommen zu lassen und notfalls nur belanglose Vorfälle zu melden. Bei meinem einzigen Bericht vom Januar 1942 (im Februar musste ich die Siedlung bereits verlassen) melde ich, dass ein Unbekannter in der Nacht vom Soundsovielten zum Soundsovielten in der Nähe der Kommandantur auf die Straße geschissen habe. Daran knüpfte ich zwei Seiten Erörterungen über die Missachtung der Macht, die sittliche Verkommenheit, die Seuchengefahr und sogar über den achtlosen Umgang mit potenziellen Düngemitteln. Der Kommandant brüllt mich an, als er meine Meldung durchsieht: ob ich wirklich so blöd sei oder ob ich nur so tue. Ich erwidere, dass ich meine Aufgabe wohl noch nicht richtig begriffen habe.
Bei unserem Spaziergang am Abend des Bevollmächtigten-Besuchs beunruhigt uns noch etwas anderes: Wie werden sich andere Neuankömmlinge nach der Anwerbung verhalten? Werden sich welche finden, die bereit sind, angeblich «feindliche» Äußerungen der Nachbarn und Arbeitskameraden zu melden? Und was wird man über uns berichten, insbesondere über mich, den «Deutschländer»?
Als wir nachts über den knirschenden Schnee in unsere Unterkunft zurückkehren, hören wir Musik im Klub. Eine Harmonika spielt. Gesungen wird auch … Arme Serviererinnen!
Der zweite Akt des Obrigkeitsbesuches, der am nächsten Tag über die Bühne geht, ist von beispiellosem Zynismus. Kasbekows Sohn Taimuras berichtet uns davon. Man hat ihn und alle anderen männlichen Siedlungsbewohner bis 30 (außer den Wolgadeutschen) in den Klub befohlen. Dort hat der Bevollmächtigte eine feierliche Rede über die Großzügigkeit der Sowjetmacht verlesen und verkündet, dass die Regierung den Versammelten, den Söhnen des Klassenfeindes, verzeihe und ihnen ab sofort sämtliche Bürgerrechte zuerkenne. Das bedeute allerdings auch, dass sie ihren Pflichten als Sowjetbürger nachkommen müssen und nicht mehr vom Wehrdienst befreit seien.
Daraufhin erhielten die jungen Leute im Vorraum am Tisch Nr. 1 nagelneue Personalausweise, die sie aber am Tisch Nr. 2 wieder abgeben mussten und dafür Militärpässe bekamen. Die Ex-Kulaken hatten sich in Soldaten der Roten Armee verwandelt.
Später höre ich, dass schon drei Monate nach der Mobilisierung keiner der 60 jungen Ex-Kulaken mehr am Leben ist. Ich vermute, dass sie an besonders gefährlichen Frontabschnitten eingesetzt worden sind. Sie seien, so heißt es, den Heldentod fürs Vaterland, für Stalin gestorben. Der Siedlung Nr. 11, die für kurze Zeit 60 freie Bürger besaß, bleibt letztlich wieder nur einer: der Kommandant. Frauen und älteren Männern hat die Sowjetmacht nämlich nicht «verziehen».
Nach seiner Rede zur «Bauernbefreiung» rauscht der Bevollmächtigte wieder ab – noch ehe alle Gemusterten ihre Militärpässe erhalten haben. Er hat es eilig, schließlich gibt es auch in den Nachbarsiedlungen junge Leute, die «befreit» werden wollen. Der Kommandant verabschiedet ihn ehrfürchtig vor dem Amtsgebäude. Ein zweiter Pferdeschlitten saust der Troika hinterher – mit Gänsen, zwei frisch geschlachteten Hammeln und den bestellten Eiern.
Nach Abfahrt der Obrigkeit pegelt sich das Leben der Siedlung wieder auf seinen gewohnten Gang ein. Nur die Angehörigen der Verhafteten haben verweinte Gesichter. Und die Mutter der Serviererin, die der oper über Nacht dabehalten hat, schimpft – auf wen? Auf die Tochter natürlich. So sind die Menschen.
ARBEITSSUCHE
In der Dreschmaschinen-Brigade werden noch ein paar Leute gebraucht. Pannekauk, ein Jungkommunist aus dem Waggon Nr. 13, meldet sich dafür und schlägt auch mir vor, mit ihm zum Dreschen zu fahren, 15 Kilometer in die Steppe hinaus. Sein vaterländischer Appell «Freiwillig in die Getreideschlacht!» beeindruckt mich weniger als die Aussicht, drei Arbeitseinheiten pro Tag angeschrieben zu bekommen. Allmählich werden nämlich unsere Reserven knapp.
Nach zwei Tagen hat Pannekauk vier oder fünf
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