Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
den Klub frisch ausgeschmückt. Auf roten Spruchbändern an den Wänden prangen einzelne Artikel der Stalin’schen Verfassung, zum Beispiel über die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die Gleichberechtigung aller Nationalitäten.
In der Rede heißt es, der Sieg sei nahe, der Krieg würde nur noch ein halbes Jahr dauern, allenfalls, so wörtlich, ein «Jährchen». Daraus schöpfen alle Hoffnung, auch ich.
Für die Silvesterfeier brechen wir unsere letzten Moskauer Reserven an. Das neue Jahr – das Friedensjahr! – soll angemessen gefeiert werden. Fedjas Frau Kira und Veronika nehmen das in die Hand. Sie besorgen eine Riesengans und kümmern sich auch um Schnaps. In hiesigen Breiten, wo der Wodka im Winter gefriert, heißt das – fünfundneunzigprozentiger Spiritus. Nimmt man davon einen Schluck, muss man einen Schluck klares Wasser hinterhertrinken. Atmet man zwischendurch, schnürt es einem die Kehle zu, und man glaubt zu ersticken. Artur bietet zum Festtag papirossy an (beste Moskauer Marke: Sewernaja Palmira ). Kostenpunkt allerdings fünf Rubel das Stück.
Der Silvesterabend verläuft in prächtiger Stimmung. Wir essen üppig, trinken immer wieder auf den baldigen Frieden. Auf den Sieg! Auf die erhoffte Rückkehr nach Moskau! Veronika und ich stoßen auch darauf an, nicht auseinandergerissen zu werden. Im Anschluss an das Mitternachts-Zuprosten – nach russischem Brauch: Aufs neue Jahr! Aufs neue Glück! Und auf die Lieben in aller Welt! – stelle ich verblüfft fest, dass ich betrunken bin. Zum ersten Mal im Leben (übrigens auch zum letzten). Ein Glück, dass der Raum klein und gedrängt voll ist, da fällt es niemandem auf, dass ich mich beim Hinausgehen an der Wand abstütze.
Auf dem Hof ist klirrender Frost – minus 35 oder 40 Grad. Der Schnee knirscht, am Himmel stehen drei Monde. Ich hebe die Arme zum Firmament und beschwöre die Sterne: 1942 sei das Jahr des Friedens! Dann entblöße ich meinen Oberkörper und reibe Gesicht, Hals, Arme und Brust mit Schnee ein. Ich wiederhole die Prozedur, bis ich wieder gerade stehen kann. An diesem Abend trinke ich keinen Tropfen mehr. Was ich nicht ahne: dass die Enthaltsamkeit einige Jahre anhalten wird.
MOBILISIERUNG
Die erste Veränderung im neuen Jahr ist erfreulich. Eine Ex-Kulakin, die mit Veronika im Kartoffelspeicher arbeitet, nimmt uns zur Untermiete auf. Nun sind wir endlich von den Königs befreit. Es war höchste Zeit. Die Alte hat angefangen zu saufen und die Sachen ihrer Tochter für Schnaps einzutauschen.
Veronika und ich kosten unser eigenes Zimmer aus, richten uns den «Hühnerstall», wie wir unsere Behausung zärtlich nennen, wohnlich ein. Für einen größeren Raum hätten wir ohnehin nicht genügend Möbel.
Am 9. Januar bin ich abends allein zu Hause, heize den Ofen und koche Abendbrot – Kartoffeln mit Kohl. Veronika ist losgegangen, um etwas Fett aufzutreiben. Handeln kann sie besser als ich. Plötzlich stürzt sie kreidebleich ins Zimmer.
«Liebster», keucht sie, «morgen bringt man euch alle weg!»
Ich nehme sie in die Arme und frage: Wie und was? Schluchzend berichtet sie, eben habe man ihr gesagt, dass morgen alle ausgesiedelten Deutschen männlichen Geschlechts, die jünger als 55 Jahre sind, mobilisiert oder eingezogen, jedenfalls fortgeschafft werden.
Eine halbe Stunde später bringt mir der Gehilfe des Kommandanten einen Gestellungsbefehl. Morgen, am 10. Januar, habe ich mich um 14 Uhr bei der Militärkommandantur in Ossokarowka zu melden. Ich bin zu «Bauarbeiten» mobilisiert. Mitzubringen habe ich warme Kleidung, einmal Wäsche zum Wechseln, Löffel, Becher und Verpflegung – für 15 Tage. Ein zweiter Zettel, den der Bote aus der Tasche kramt, setzt mich davon in Kenntnis, dass die Abfahrt aller sogenannten Arbeitsmobilisierten früh um acht vom Klub aus erfolgt. Dort wird auch Brot verteilt. Ich erhalte fünf Kilo, die meiner im Kolchos verbleibenden Frau als Vorschuss angeschrieben werden.
Veronika packt meine Sachen. Drei Konservenbüchsen, die wir als eiserne Ration zurückgelegt haben, steckt sie in meinen Beutel. Mit Mühe überrede ich sie, wenigstens eine Büchse zu behalten. Dann erst entsinnt sie sich, dass sie auf ihrer Tauschtour ein Stück Fleisch ergattert hat. Sie brät es, ihre Tränen fallen in die Pfanne.
Am nächsten Morgen der Abschied. Ich nehme kaum wahr, wie herrlich der Tag ist. Die Pferde ziehen uns im Galopp über die Steppe. Windstill. Sonne. Noch lange sehen wir den
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