Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
fertig, über mir unbegreifliche Kanäle Brot oder Kartoffeln aus der Außenwelt einzuschmuggeln. Den Übrigen – von den Ex-Kulaken abgesehen – gehen allmählich die Vorräte aus. Einige weigern sich bereits, an den militärischen Übungen teilzunehmen. Komischerweise passiert ihnen nichts.
Auch für mich wird es langsam brenzlig. Am zwölften Tag ist mein Brot zu Ende. Nun verplane ich meine beiden Konservenbüchsen so, dass sie bis zum 16. Tag reichen – zwei Mahlzeiten pro Tag. Währenddessen beobachte ich, wie die Ex-Kulaken sich in jeder freien Minute um die eisernen Öfchen drängeln und kochen, brutzeln und braten. Ständig essen sie Kartoffeln mit Knödeln (das ist das wolgadeutsche Nationalgericht), Fleischtaschen oder Plätzchen. So rächen sich die Opfer der «liquidierten Klasse» an uns, die sie als Nutznießer der Kollektivierung oder gar als Bannerträger kommunistischer Ideen betrachten.
Am 17. Tag der sinnlosen Soldatenspielerei in Ossokarowka gibt es für Fedja Reppich und mich eine Überraschung – unsere Frauen sind zu Besuch gekommen. Mit einer Notlüge haben sie den Kommandanten bewogen, ihnen die Fahrt ins Rayonzentrum zu genehmigen. Veronika hat einen Laib Brot für mich mitgebracht, sodass ich fürs Erste wieder versorgt bin. Ich erfahre, dass Veronika und Kira jetzt zusammengezogen sind und zu dritt mit Fedjas Mutter leben. Ungestört mit meiner Frau sprechen kann ich allerdings nicht. Pannekauk, der an diesem Abend Kasernendienst hat, erlaubt mir nicht, auf den Hof hinauszugehen. «Extrawürste», erklärt er, «gibt es in der Armee nicht.»
Wir verabschieden uns vor versammelter Mannschaft. Ich küsse Veronikas Augen. Leb wohl! Wie wird es ihr ohne mich ergehen?
Vier Tage später, am 1. Februar 1942, werden Viehwaggons für uns bereitgestellt. Zwei Stunden lässt man uns in Reih und Glied auf dem Bahnhofsgelände stehen. Es herrschen 35 Grad Frost. Als wir verladen werden, denke ich an den Abtransport aus Moskau zurück. Die Perspektive ist düsterer geworden.
TEIL III • HUNGER
(Teil III und IV wurden geschrieben zwischen 1998 und 2002)
INS UNGEWISSE
Wir sind erleichtert, als wir sehen, dass zwischen den Doppelpritschen im Waggon ein kleiner gusseiserner Ofen steht. Kohle gibt es auf der Strecke genug. Unsere Wachsoldaten drücken ein Auge zu, wenn während eines Halts jemand mit einem Eimer auf einen Kohlewaggon klettert, der auf einem Nebengleis steht. Allerdings wird es nachts, wenn der zum Heizen abgestellte Mann einschläft, recht kühl. Die Wände beschlagen, und sehr bald vereisen die Planken. Ich friere mehrmals mit den Haaren oder den Sachen an der Bretterwand fest.
Als die Leute am nächsten Morgen wach werden, gibt es nur zwei Gesprächsthemen: Wann gibt es etwas zu essen, und wohin bringt man uns? Die meisten tippen auf den Fernen Osten, Befestigungsbauten gegen Japan. Auch von dort droht ja Krieg. Einige wollen sogar gehört haben, dass der Rottenkommandeur etwas von Chabarowsk gesagt hat. 12 Von Petropawlowsk schwenkt der Zug aber nach Westen, Richtung Tscheljabinsk. Also doch nicht in den Fernen Osten. Nun wollen manche wissen, dass wir in Frontnähe gebracht werden, zum Bau von Panzersperren. Hört sich nicht gut an. Die Kulaken vermuten dagegen, man bringe uns in den Nordural. Dort gebe es zwei große Arbeitslager: Iwdellag* und Sewurallag*.
Bei einem Aufenthalt in Kurgan (minus 40 Grad) wird die Waggontür aufgerissen. Aus einem Schwall kalter Luft schnarrt eine Kommandostimme: «Hemden runter! Läusekontrolle!» Ich werfe mein Hemd dem Kontrolleur zu, bekomme es aber postwendend zurück: «Bist du blöde?! Weißt wohl nicht, dass man es linksrum vorzeigen muss?» Ich bin noch nie nach Läusen durchsucht worden. Also wende ich das Hemd und werfe es zum zweiten Mal nach draußen. Sofort kommt es wieder zurück. «Haste Tomaten auf den Augen? Da sitzen sie doch, dick und fett. Bist wohl zu faul, die eigenen Läuse zu knacken?» Tatsächlich! Ich sehe hin – in den Nähten sitzen die Biester. Im Unterschied zu Flöhen habe ich Läuse noch nie gesehen. Ein Junge aus Baku zeigt mir, wie man Läuse knackt. Seitdem mache ich drei- oder viermal am Tag den Oberkörper frei und jage Ungeziefer. Unerklärlich, dass immer wieder neue da sind.
Die Ex-Kulaken (es sind etwa 15 Leute von insgesamt 50 in unserem Waggon) sitzen den ganzen Tag um das eiserne Öfchen und kochen und braten. Die Ofenplatte glüht, das Fett spritzt. Ein schönes Schauspiel für die,
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