Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
verhalten. Warum vertraut man uns nicht? Warum setzt man uns mit den Kulaken gleich, die immer gegen die Sowjetmacht waren? Ich würde noch halbwegs verstehen, dass man uns nicht an die Front lässt. Aber wir könnten doch woanders nützlich sein – Aufrufe an die deutschen Soldaten verfassen, Zeitungen herausgeben, meinethalben Granaten drehen oder Panzergräben ausheben. Aber das hier! Das ist doch absolut sinnlos!»
Ich widerspreche ihm, halb um ihn zu beruhigen, halb um mir selbst einzureden, dass irgendein Sinn hinter alldem steckt – der Deportation, der sogenannten Mobilisierung, dem Soldaten-Getue und der Sträflingsbehandlung. «Ich denke, dass die uns über kurz oder lang auf vernünftige Weise einsetzen werden», sage ich. «Dass die kleinen Pinscher uns hier malträtieren und nicht einmal was zu fressen geben, kann doch nicht geplant sein. Das sieht eher nach gewöhnlicher russischer Schlamperei aus.»
Jule schüttelt den Kopf: «Nee, nee! Die brauchen uns nicht mehr und lassen uns einfach eingehen. Wir sind abgeschrieben. Glaub mir, Wolfgang, lebendig kommen wir hier nicht raus. Und Berlin sehen wir nie mehr wieder.»
Er wird nachdenklich und überlässt sich wehmütigen Erinnerungen: «Tja, Berlin … Die Demonstrationen im Lustgarten! Die Stimmung damals … Und mit dem Motorrad über die Avus – das war doch was! Strandbad Wannsee! Die Zillefiguren dort … Jetzt sind wir selbst Zillefiguren …»
Dies ist mein letztes Gespräch mit Jule. In den nächsten Tagen sehen wir uns zwar noch einige Male, doch wechseln wir nur wenige Worte. Zwei oder drei Wochen später wird er nach der Bolschaja Kossolmanka abtransportiert. Als ich nach mehreren Monaten ebenfalls dorthin komme, hat man ihn schon weiterverfrachtet. Irgendwer sagt mir, der andere «Deutschländer» sei auf der Malaja Kossolmanka. Im Herbst lande auch ich dort und erfahre, dass Jule sich das Leben genommen hat.
Von alledem weiß ich natürlich während meines letzten ausführlichen Gesprächs mit Jule nichts. Ich ahne ja nicht einmal, dass uns kein weiterer Gedankenaustausch vergönnt sein wird.
Während er seine düsteren Vorahnungen ausbreitet, treffen allmählich die anderen Marschierer auf dem Platz vor der Wache ein. Vielen von ihnen zittern die Knie. Sie setzen sich ebenfalls auf herumliegende Baumstämme. Immer größer werden die Abstände zwischen den ankommenden Gruppen. Zum Schluss kurven die mit dem Gepäck beladenen Pferdeschlitten heran. Der NKWD-Mann ist nicht zu sehen. Wahrscheinlich hat er den toten Tamplon zurück zur Bolschaja Kossolmanka gebracht.
Nachdem wir unsere Sachen an uns genommen haben, führen die Kutscher die Pferde weg. Auf einem der vorübergleitenden Schlitten liegt noch ein kleiner Packen – Tamplons Bündel, das niemand braucht. Mir wird – vielleicht zum ersten Mal im Leben – die erbarmungslose Endgültigkeit des Todes bewusst. Nie mehr wird irgendjemand das einmalige Seinsgefühl dieses Menschen als eigenes empfinden. Für ihn ist von nun an alles bedeutungslos – Krieg und Frieden, Essen oder Hunger, Waschen oder Dreckigbleiben. Vermutlich wird sich nicht einmal jemand finden, der seine Angehörigen benachrichtigt – falls er welche hat. Heute – 56 Jahre später – geht mir durch den Kopf, dass der Name dieses damals zu Tode gekommenen Menschen in diesen Aufzeichnungen wahrscheinlich zum allerletzten Mal erwähnt wird. Und abgesehen von einigen wenigen, deren Name in einer Zeitung oder in einem Buch auftaucht, werden auch die Namen vieler anderer hier zum letzten Mal genannt werden.
LAGPUNKT «SCHWARZES FLÜSSCHEN»
Nach einer Weile treten aus der Wachbude vier oder fünf WOCHR*-Soldaten und ein Mann heraus, an dessen Gehabe man gleich den Chef erkennt. Bujewitsch, so heißt er, kommt mit unzufriedener Mine auf uns zu. Dann brüllt er uns an, den russischen Mutterfluch vorausschickend: «Was ist denn hier los? Antreten, Sauhaufen!»
Die Leute erheben sich träge und stellen sich auf. Ein besonders beflissener «Arbeitsmobilisierter», Gleckler mit Namen, versucht, uns in halbwegs ordentlichen Viererreihen aufzustellen, tritt dann vor, legt die Hand an seine Pelzmütze und meldet: «Genosse natschalnik ! Die von der Bolschaja Kossolmanka Eingetroffenen …» Doch Bujewitsch unterbricht ihn ungehalten. Offenbar stört ihn schon die Anrede – sonst wird er von solchen Neuankömmlingen mit «Bürger natschalnik » angesprochen.
«Du bist doch auch einer von denen!», presst er
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