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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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den Oberkörper frei machen, dann, wenn sie vorgerückt sind, legt der Arzt sein Stethoskop an die nackte Brust, macht eine Notiz – und schon ist der Nächste dran.
    Diese Notiz hat es, was ich aber noch nicht weiß, in sich. Die Leute werden nämlich einer der drei Kategorien – TT, ST oder LT – zugeordnet. TT heißt tjashjoli trud (schwere Arbeit), ST sredni trud (mittelschwere Arbeit) undLT ljogki trud (leichte Arbeit). Doch ist es, wie man denken könnte, keineswegs so, dass die Männer mit der Einstufung ST nicht zu schweren Arbeiten eingesetzt werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen (Leute mit schwerem Herzfehler oder dergleichen), schickt man nach Ende der Quarantäne alle gleichermaßen in den Wald. Nur brauchen die ST-Leute lediglich 70 Prozent und die LT-Leute lediglich 50 Prozent der Arbeitsnorm zu erfüllen. Das aber ist, wie sich sehr bald herausstellt, von existenzieller Bedeutung, hängt doch von der Normerfüllung die Brotration und von dieser die Überlebenschance eines jeden ab. Mir wird TT aufgebrummt, eine Bürde, die ich während meines ganzen Lagerlebens nicht mehr loswerde, selbst nicht, als ich nur noch aus Haut und Knochen bestehe.
    Das dritte Haus in der Zone ist die Sauna, das vierte das Kontor mit Chefzimmer und Buchhaltung.
    Zentrales Gebäude des Lagpunktes, das in der Mitte des Areals steht, ist die stolowaja , die Kantine. An einem Ende befindet sich die Küche mit dem Kabuff des Brotschneiders, am anderen der Essraum, in dem lange hölzerne Tische und schmale Bänke stehen. Es gibt zwei Durchreichen, für Brot- und Suppenausgabe.
    So kümmerlich das Essen auch ist, nimmt es doch viel Zeit in Anspruch. Wir müssen vor der Baracke antreten, abzählen, auf Nachzügler warten. Burjewitsch besteht darauf, dass wir im Gleichschritt zur Kantine marschieren. Auf meinem nächsten Lagpunkt, auf der Bolschaja Kossolmanka, trottet man einfach in den Essraum, wenn der Kantinen-Diensthabende «Kompanie Nummer soundso» ruft.
    Das Brot für seine Mannschaft nimmt der Kompanieführer selbst in Empfang, zum Austragen der Suppennäpfe bestimmt er einen seiner Leute. Der muss gut aufpassen, um vom ausschenkenden Koch nicht beschissen zu werden. Versteht es umgekehrt der Suppenempfänger, den Koch mit Gerede über Kranke, Verspätete, Diensthabende etc. durcheinanderzubringen, kann er für sich eine Zusatzportion herausschlagen.
    Das Essen stimmt uns schon auf künftige Zeiten ein. Während der Quarantäne erhalten wir 600 Gramm pro Tag. Das Brot ist klitschig (der Brotschneider hängt in seiner sorgsam verschlossenen Kammer nasse Tücher auf, damit sich das Brot mit Feuchtigkeit vollsaugt – so wiegt es mehr). Deshalb werden Kanten besonders geschätzt. Über die beim Wiegen anfallenden Reststücke ( doweski ), die mit streichholzgroßen Holzstäbchen an die eigentliche Ration angeheftet sind, wird ständig lamentiert («Alles Betrug – die Holzstäbchen wiegen doch auch was!»). Später, als es bisweilen Brot gibt, das zu einem Großteil aus Hafer- oder Gerstenkleie besteht, wird über die schlecht befestigten und heruntergefallenen doweski gestritten.
    Von der ersten Mahlzeit an esse ich mein Brot sofort nach Erhalt auf. Das wird, da mich der Hunger auch in Zukunft plagt, schnell zur Gewohnheit. So erklärt sich, dass mir, obwohl das im Lager häufig vorkommt, in all den Jahren nie Brot geklaut wird.
    Die Lagersuppe, balanda , kann gegen den Hunger kaum etwas ausrichten. Zwar schwimmen am ersten Tag in der Suppe winzige Fleischklümpchen zwischen ein paar Kohlblättchen und Kartoffelstücken. Allerdings kann man das Fleisch kaum zerkauen – es stammt von einem der ausgezehrten Lagergäule. In den folgenden Monaten müssen weitere zwei oder drei Vierbeiner dran glauben – bis Bujewitsch ein Machtwort spricht und ein paar Pferdewärter in den Karzer schickt. Dann gibt’s auch keine zähen Klümpchen mehr.
    Theoretisch steht jedem Lagerinsassen – bei hundertprozentiger Normerfüllung – eine Minimalzuteilung an Zucker, Öl, Fisch, Grütze und anderen Produkten zu. Diese bekommt er aber nie. Die fehlenden Produkte können nach bestimmten «Umrechnungskoeffizienten» durch andere Produkte (de facto immer Mehl) vergütet werden – oder auch nicht. In guten Zeiten wird daher Mehl in die balanda gerührt. Meistens wird die Vergütung jedoch ersatzlos gestrichen. Dann sieht die Suppe so aus, wie sie uns am «Schwarzen Flüsschen» vorgesetzt wird.
    Vor der Kantine liegt der Appellplatz, auf

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