Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Holzhäuschen, aus deren Schornsteinen der Rauch senkrecht emporsteigt. Vor uns, etwa 30 Schritt vom Bahndamm entfernt, ein schätzungsweise 70 mal 70 Meter großes Geviert, umgeben von einem hohen Bretterzaun mit Stacheldrahtkrone. An den Ecken stehen Holztürme. Auf dem nächstliegenden fuchtelt ein Mann im dicken Pelz mit den Händen, um sich zu wärmen. Dann greift er nach seiner abgestellten Maschinenpistole und glotzt uns an. Hinter dem Bretterzaun sieht man ein paar Dächer. Auch dort Rauch. Der Tag hat offenbar schon lange begonnen.
Dies ist der erste Lagpunkt, den ich sehe. Wüsste ich, wie viele Jahre ich hinter solchen Bretterzäunen verbringen muss, hätte mich der Mut womöglich verlassen. Die Unwissenheit schützt mich.
Zwei nicht besonders vorschriftsmäßig gekleidete NKWD-Offiziere stehen zwischen uns und dem Zaun und streiten miteinander. Schließlich kommen die beiden Halbuniformierten, von den Zugführern begleitet, auf uns zu, schreiten unsere Formation ab und lassen einige Männer vortreten. Aus den Ausgesonderten entsteht eine neue Formation. Ich merke, dass zumeist ältere oder krank aussehende Leute herausgeholt werden. Wie sich herausstellt, bleiben die hier, am Ausladepunkt, zurück, während den anderen, der großen Mehrheit, noch ein Stück Weg bevorsteht.
Nachdem wir vielleicht eine Stunde von einem Fuß auf den anderen tretend im Schnee gestanden haben, tritt einer der beiden NKWD-Leute vor und sagt mit schneidender Stimme: «Soldaten! Ihr werdet hier in der Nähe zur Arbeit eingesetzt. Jetzt marschieren wir erst einmal zur Unterkunft. Eure Sachen legt ihr dort auf den Schlitten, sie werden gebracht. Ihr braucht nicht in Reih und Glied zu marschieren. Ist nicht weit. Immer hinter dem Schlitten her. Verlaufen könnt ihr euch nicht. – Gibt’s Fragen?»
Jemand ruft: «Wann kriegen wir was zu essen?»
«Ist schon gekocht», sagt der Offizier, «sobald ihr in der Unterkunft seid, werdet ihr verköstigt. Noch Fragen?»
«Ehe wir losgehen, müssen wir was zu essen kriegen», schreit ein anderer. «Ich schiebe seit einer Woche Kohldampf!»
Jetzt mischt sich der zweite Offizier ein. «Ach du Fritz!», ruft er. «Willst dich beschweren?! Gefällt dir wohl nicht bei uns? Na, warte nur …»
Der erste Offizier unterbricht ihn jedoch. Er lässt den Frager raustreten und schickt ihn zu der anderen Kolonne. Dem werden sie ganz schön zusetzen, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass ihm nichts passiert. Wahrscheinlich hat der NKWD-Mann einfach begriffen, dass dem Ausgehungerten der bevorstehende Fußweg nicht zugemutet werden kann.
Weitere Fragen gibt es nicht, also Abmarsch.
Nach der Auflösung unseres Blocks halte ich Ausschau nach Jule. Ich hatte schon beim Aussteigen seine lila Kutte gesehen und dann bemerkt, dass er nicht unter den Zurückbleibenden ist. Auch er sucht mich – erleichtert, in dieser unheimlichen Umgebung nicht ganz allein zu sein.
Der Schlitten, auf den wir unser Gepäck legen, ist ein für den Holztransport bestimmter sogenannter kanadischer Schlitten, etwa acht Meter lang und zweieinhalb Meter breit. Er wird von einem Traktor auf einer speziell vorbereiteten Piste gezogen, in deren Mitte eine tiefe Rinne verläuft, die regelmäßig mit Wasser begossen wird und sich in einen Eisgraben verwandelt. In diesem Graben gleitet die mächtige eisenbeschlagene Hauptkufe des Schlittens, während die beiden seitlichen Kufen das hin- und herkippende Gefährt mal links, mal rechts abstützen. Zum Gepäcktransport hat man den Schlitten notdürftig mit Brettern ausgelegt. Es setzen sich auch ein paar Leute auf die Bretter – zuerst wenige, dann immer mehr. «Wir gehen zu Fuß», sage ich zu Jule, «beim Sitzen erfriert man glatt.» «Na klar», meint Jule. Dann poltert der Traktor, ein großer TschTS-60*, heran, zerrt den Schlitten mit einem Ruck in Fahrtrichtung, sodass die Leute beinahe herunterpurzeln. Der Tross setzt sich in Bewegung. Langsam laufen wir uns warm.
Plötzlich lässt uns ein gellender Schrei zusammenfahren. Der Traktor stoppt abrupt. Die hinter dem Schlitten Trottenden drängen nach vorn. Ich sehe, wie sich der NKWD-Mann, der uns begleitet, über ein zwischen Eisrinne und Hauptkufe eingeklemmtes Etwas beugt. Der Schnee färbt sich rot. Ich begreife, dass das ein Mensch ist – oder war. Mir wird übel.
Jule führt mich zur Seite. Undeutlich nehme ich wahr, dass der Offizier mit noch jemandem versucht, den Verunglückten unter dem Schlitten
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