Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
wütend hervor. «Stell dich mal hübsch in die Reihe!» Gleckler verstummt betreten und tänzelt ein paar Schritte zurück.
Einige lächeln schadenfroh. Der Arschkriecher, abgeblitzt! Doch rasch vergeht ihnen die Häme. Denn jetzt spricht Bujewitsch. Das ist keine Rede, sondern eine Kriegserklärung. «Hört mal her», brüllt er, «zuerst wird kompanieweise gebadet und entlaust. Dass irgendwer vorher essen möchte, will ich nicht hören. Hier gilt meine Ordnung. Wenn man euch vorher nichts zu fressen gegeben hat – nicht meine Sache. Jedenfalls bin ich nicht gewillt, meine Regeln umzustoßen. Nie und nimmer! Merkt euch das. Wer sich das nicht einbläut, wird es später bereuen. Im Übrigen seid ihr hierhergekommen, um zu arbeiten. Und ich werde dafür sorgen, dass ihr es tut, darauf könnt ihr euch verlassen. Erst mal habt ihr fünf Tage Quarantäne. Das haben sich die Ärzte ausgedacht, diese Schleimscheißer. Wenn es nach mir ginge, wäre das anders. Aber Gesetz ist Gesetz. Wer Fragen hat, kann sie sich aufsparen – in drei Tagen kommt der Politnik, der erklärt euch alles. Und jetzt – in die Sauna, marsch!»
Beim Durchschreiten des Tores werden wir von einem Soldaten mit einem Holzbrettchen in der Hand gezählt. Auf dem Appellplatz werden jeweils 15 Viererreihen – also 60 Mann – abgeteilt. So entstehen neue «Kompanien».
Die Baracke, in die ich komme (und die sich von den anderen nicht unterscheidet), hat raue Balkenwände, die mit Kalk geweißt sind. Trotzdem ist es dunkel, die Fenster sind sehr klein. Rechts und links vom Mittelgang erheben sich dreistöckige Pritschen (das ist, wie ich später erfahre, eher selten, auf anderen Lagpunkten sind die Schlafstätten zweistöckig). Die Pritschen bestehen aus ungehobelten Brettern. Matratzen oder Stroh gibt es nicht.
Ich werfe mein Bündel nach oben auf einen Schlafplatz. Bin noch unerfahren, weiß nicht, dass die Ausdünstungen des menschlichen Arbeitsviehs dort am unerträglichsten sind. Dafür hasten oben die Leute nicht direkt an einem vorbei, es ist etwas «ruhiger».
So sieht der erste Lagpunkt, aus, den ich kennenlerne. Er heißt Tschornaja retschka («Schwarzes Flüsschen»). Im gesamten Lager gibt es sieben oder acht solcher «selbständigen Lagpunkte», auch OLP ( otdjelnyj lagpunkt ) genannt. Ihre Anzahl variiert. Wird ein neues Holzeinschlagsgebiet erschlossen, entsteht auch ein neuer OLP. Außerdem gibt es ein Kommandantenlager, KOLP ( Komendantskij OLP). Dessen Häftlinge sind für die Versorgung der «Hauptstadt» des Lagers – Soswa – zuständig.
Das Nordurallager, das nach seiner Postfachnummer auch als Lager Nr. 239 bezeichnet wird, untersteht der Hauptverwaltung der Forstindustrie ( glawnoe uprawlenie lesnoj promyschlennosti ) und damit der Hauptverwaltung der Lager des NKWD der UdSSR, dem GULAG* ( glawnoe uprawlenie lagerej ), und nimmt eine Fläche von etwa 45 000 Quadratkilometern ein. Es ist also ungefähr so groß wie Niedersachsen. In einigen Orten des Lagergebietes (Arbeitersiedlung Soswa, Stadt Werchoturje, Kirchdorf Gari) haben sich zwar die örtlichen Organe (Sowjets) einige Kompetenzen bewahrt, doch wird die Macht in dem gesamten Areal faktisch von der Lagerverwaltung ausgeübt.
An deren Spitze steht Oberst Leonid Sacharowitsch Wassin, ein höchst arroganter, zur Fettleibigkeit neigender Mann, von dem noch die Rede sein wird. Er hat drei Stellvertreter – den Chef der Politischen Verwaltung und je einen für Produktion und für Sträflingsangelegenheiten. Da wir «Arbeitsmobilisierten» praktisch eine Kategorie von Sträflingen sind, ist Letzterer auch für uns zuständig.
Die drei wichtigsten Abteilungen des Lagers bilden die für die Bekämpfung von «Konterrevolution und Sabotage» zuständige Abteilung «Operative Tscheka» (Opertschek) und die Registrations- und Einsatzabteilung (Urtsch). Es hat sich, soweit ich sehen kann, in allen Lagern der Sowjetunion eingebürgert, die Politabteilung «Erste Abteilung», den Urtsch «Zweite Abteilung» und die Opertschek-Abteilung «Dritte Abteilung» zu nennen. Um eine Vorstellung von der Größe und Organisation des Arbeitslagers zu vermitteln, seien die anderen Abteilungen hier wenigstens erwähnt: die Kaderabteilung, die Wachabteilung (WOCHR), die Planabteilung, die Hauptbuchhaltung, die Forstabteilung, die Abteilung für Flößerei, die für alle Transportmittel und -wege sowie für die kleinen lagereigenen Kraftwerke zuständige Mechanisierungsabteilung,
Weitere Kostenlose Bücher