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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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hervorzuziehen. Für Hilfeleistungen ist es indes schon zu spät. Der Zermalmte hatte es sich auf dem leicht emporgebogenen Vorderteil der Mittelkufe bequem gemacht und war, als sich der taumelnde Schlitten ruckartig zur Seite neigte, hinabgestürzt. Ehe er sich aufrichten konnte, war er von der Kufe in die Eisrinne gezogen worden. Jemand sagt: «Dem ist vieles erspart geblieben, direkt zu beneiden, der Kerl!» Ein anderer ruft dem Traktorführer etwas zu. Dieser blickt sich teilnahmslos um und macht eine Handbewegung: So etwas passiere nun mal.
    Inzwischen hat der NKWD-Mann von dem Toten abgelassen und scheucht die auf den Planken hockenden Leute vom Schlitten hinunter. Kaum dass sie abgestiegen sind, fährt er sie an, nicht nutzlos herumzustehen. Sie sollen vorausgehen, der Schlitten werde sie einholen.
    Ich rapple mich hoch, wir gehen weiter. Der Weg, an dessen rechter Seite eine auf Holzmasten verlegte Telefonleitung verläuft, ist eine gerade Linie, die sich weit vorn im Dunst verliert. Angeblich ist es nicht weit. Als wir an die einzige Biegung des Weges kommen, ist noch immer weit und breit nichts zu sehen. Hunde, die haben uns belogen!
    Hinter der Biegung ist der Wald gleichsam zurückgewichen. Es handelt sich offenbar um schon abgeholzte Flächen, von meterhohem Schnee bedeckt. Jetzt zu fliehen – absurder Gedanke! Man käme kaum voran, würde bis zu den Hüften im Schnee versinken. Ganz zu schweigen von der Spur.
    Die Sonne steht jetzt knapp über dem Horizont, der Himmel schimmert in durchsichtigem Grau, kleine weiß gepuderte Tannen recken ihre Spitzen in die Höhe. Eigentlich entbehrt auch diese Landschaft nicht gewisser Reize. Wenn nur der Magen nicht so knurren würde! Plötzlich habe ich die Strickkappe vor Augen, die neben der Hauptkufe im Schnee lag, und entsinne mich: Sie hatte Tamplon gehört, dem katholischen Wolgadeutschen aus meinem Waggon, der sich nie gewaschen hatte. Seine Vorahnung hat sich allzu rasch erfüllt …
    Wir schreiten kräftig aus und überholen nach und nach die Gruppen der missmutig voranstapfenden Leute. Nach einiger Zeit – ein Ende des Weges ist noch immer nicht in Sicht – haben wir die ganze Marschkolonne hinter uns gelassen. Jule streift den Handschuh ab und sieht auf die Uhr (auch ich habe meine Armbanduhr noch; ich werde sie erst nach drei oder vier Wochen eintauschen und dann sechs Jahre ohne Zeitanzeige auskommen). «Menschenskind», sagt er, «wir sind schon zwei Stunden unterwegs, also mindestens acht oder neun Kilometer gelaufen. Hoffen die darauf, dass wir einfach umfallen?»
    Irgendwann (wir mögen zwölf Kilometer zurückgelegt haben) ist die Trasse zu Ende. An einer Stelle, von der aus nur noch ein gewundener Trampelpfad – jetzt wieder durch dichten Wald – weiterführt, treffen wir auf fünf oder sechs Pferdeschlitten und zwei in weiten Halbpelzen steckende Kutscher. Ich vermute, dass sie auf unser Gepäck warten. Sie schmauchen ihre machorkas . Sehr gesprächig wirken sie nicht. Immerhin antworten sie: «Zwei Kilometer.»
    Tatsächlich stoßen wir nach ungefähr zwei Kilometern auf eine Lichtung, in deren Mitte sich ein Geviert aus Bretterzäunen erhebt. Auch die Wachtürme an den Ecken fehlen nicht. Wir gehen auf die Wache zu, aber da brüllt ein Soldat von oben: «Stehen bleiben! Oder ich schieße.»
    Er fragt uns: «Wo ist denn eure Bewachung, ihr Mistviecher?»
    «Wir haben keine Bewachung.»
    Der Kerl auf dem Turm lacht: «Was? Keine Bewachung? Wer seid ihr denn?»
    «Arbeitsmobilisierte sind wir.»
    «Arbeitsmobilisierte und ohne Bewachung! Ha, ha!»
    Dann wird er friedlicher: «Setzt euch da hin und wartet.» Zum anderen Turm ruft er hinüber: «He, Shenja, wenn die aufstehen, schießt du sie über den Haufen!»
    Schöne Aussichten! So bald wird es also nichts mit dem warmen Essen. Zermürbt setzen wir uns auf einen unweit liegenden Balken, von dem wir den Schnee fegen. Leise fluchend knöpft Jule seine Kutte auf und zieht seinen letzten Zwieback hervor. Er bricht ihn entzwei und reicht mir eine Hälfte.
    Unterwegs haben wir fast die ganze Zeit geschwiegen. Nun kommt langsam ein Gespräch in Gang, allerdings immer wieder von Schweigeminuten unterbrochen. Jule ist noch pessimistischer als ich. «Nach einem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion», sagt er, «hätte ich mir alles vorstellen können – nur das hier nicht. Wir waren immer Hitlergegner, auch als alle den Hitler-Stalin-Pakt bejubelt haben. Wir haben uns durchweg loyal

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