Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
dem wir alle zweimal am Tag zur Zählung ( prowerka ) antreten müssen. Morgens geschieht das, wenn die Abfütterung der letzten Kompanie abgeschlossen ist, und geht (vom sechsten Tag unseres Eintreffens an) gleich in den Abmarsch zur Arbeit über. Abends müssen wir eine halbe Stunde vor der Nachtruhe zum Zählen antreten. Um 22 Uhr wird mit einem Schlag auf ein neben der Wache hängendes Stück Eisenbahnschiene der Tag beendet. Damit das Herumkommandieren auf Kosten der Arbeitszeit vermieden wird, verläuft die morgendliche, noch in der Dunkelheit stattfindende Zählung meist zügig. Desto zermürbender ist die abendliche Prozedur. Da lassen die WOCHR-Soldaten, die unter sich von uns als «Fritzen» sprechen, ihren Frust an uns aus. Wir sind ihnen ausgeliefert – vom langen Arbeitstag erschöpft, stehen wir in der Kälte und sehen zu, wie sie sich beim Addieren der Mannschaftsstärke der einzelnen Kompanien mehrmals verrechnen oder jemanden suchen, der vielleicht unabgemeldet zum Medpunkt gegangen ist oder mit Durchfall auf dem Klo hockt.
An meinem zweiten Tag im Lager kommt der Buchhalter des Punktes (ein ehemaliger Sträfling, außer Bujewitsch der einzige Freie hier) in die Baracke und fragt, ob jemand «richtig» – also Russisch – lesen und schreiben kann. Als ich mich melde, werde ich ins Kontor geführt, wo drei weitere Schreibkundige warten. Wir bekommen jeder einen Tisch und werden verdonnert, nach den Angaben der Schlange stehenden Neuankömmlinge die obligatorischen Fragebögen für sie auszufüllen. Auf mich entfallen fast 100 Leute, für die ich zweieinhalb Tage brauche, doch lerne ich auf diese Weise die Leidensgefährten meines – ich benutze mal diesen offziellen Terminus – «Kontingents» ziemlich gründlich kennen.
Auffallend an den Fragebögen ist, dass alle Fragen in der Vergangenheitsform abgefasst sind: «Waren Sie Mitglied der Kommunistischen Partei? Hatten Sie früher …?» Zudem handelt es sich ganz offensichtlich um Fragebögen für Häftlinge. Auch dadurch verdichtete sich der Eindruck, dass wir uns in den Augen der Lageradministration in keinerlei Hinsicht von Strafgefangenen unterscheiden. Das bestätigt sich in der folgenden Zeit immer wieder. Wir unterstehen den für Sträflinge geschaffenen Organen, für uns gelten dieselben Unterbringungs-, Arbeits- und Verpflegungsnormen wie für Häftlinge, wir sind gleicherweise den Kategorien TT, ST und LT zugeteilt, unterliegen demselben Regime, derselben Kleiderordnung und den gleichen Gesundheitsbestimmungen, unsere Post wird von der Lagerzensur kontrolliert usw.
Oben auf den Fragebögen befinden sich zwei Felder für Fotos (en face und Profil), die jedoch frei bleiben – in diesem gottverdammten Nest gibt es keinen Fotoapparat. Desto sorgfältiger wird die letzte (daktyloskopische) Seite der Bögen behandelt. Es werden Abdrücke von jedem Finger und vom Handballen genommen.
Die Leute aus den verschiedenen Gruppen reagieren sehr unterschiedlich auf die Fragen und die Abnahme der Fingerabdrücke. Auch zeigt sich, dass es zwischen den katholischen und evangelischen wolgadeutschen Ex-Kulaken starke Antipathien gibt. Dafür verachten sie alle gemeinsam die Russen. In ihrer Sprache, die das aus dem 18. Jahrhundert stammende Schwäbisch ist, unterscheiden sie sich nicht voneinander. Ich beginne mich, was mir in der Folgezeit allerdings besser gelingt, mit ihrem (übrigens recht geringen) Wortschatz vertraut zu machen: «luren» für «warten», «schaffen» für «arbeiten» usw.
Die Fragen beantworten die ehemaligen Kulaken gleichgültig. Obwohl ich es ihnen auf Deutsch erkläre, verstehen sie bisweilen gar nicht, was gefragt wird. Aber es ist ihnen auch egal. Mehrmals höre ich, wie der eine zum anderen sagt: «Ach, Vetter, lass den doch schreiben, was er will.» Stumpf zählen sie auf, welche ihrer Familienmitglieder Repressalien ausgesetzt waren – als gehöre das Verfolgtwerden zu den allergewöhnlichsten Dingen im Leben. Bei manchen sind es fast alle Angehörigen – Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten, Neffen, Nichten. Andere haben gar keine Verwandten mehr – alle sind tot, infolge von Enteignung, Aussiedlung und Verhaftung. Unbeeindruckt, fast gleichgültig überlassen die Wolgadeutschen ihre Hände der Frau, die ihre Finger für die Abdrücke mit Farbe bestreicht.
Meine übrigen «Klienten» reagieren unterschiedlich auf das «Klavierspiel» (wie man die Abnahme der Fingerabdrücke im Lagerjargon nennt). Während die
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