Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Datum – es ist, wie ich ausgerechnet habe, der 30. April, sodass ich gewissermaßen in den 1. Mai hineinmarschiere. Ich erinnere mich an die Berliner Demonstrationen, die unvergessenen Kampflieder klingen mir in den Ohren. Obendrein wird uns an diesem 1. Mai erstmalig ein «Flicktag» gewährt. Nicht etwa wegen des revolutionären Feiertages, sondern weil ein verheerender Schneesturm wütet und der Chef der Wachmannschaft sich weigert, seine Leute hinauszuführen. Überdies gelingt es mir, über die Verpflegungsnorm hinaus etwas Essbares zu erhaschen. Und schließlich werde ich – leider nur für zwei Tage – zur Büroarbeit eingeteilt und lande dann – leider auch nur vorübergehend – in einer Brigade, in der die Arbeit nicht ganz so schwer und das Plansoll einigermaßen erfüllbar ist. Das bedeutet 600 Gramm Brot und somit Verbesserung der Überlebenschancen.
Chef auf der Bolschaja Kossolmanka ist Leutnant Bestushew, ein äußerst widerlicher Kerl. Seine hervorstechendste Eigenschaft ist, die «deutschen Drückeberger» noch mehr zu hassen als die Sträflinge. Symptomatisch ist, dass er vor unserer Ankunft dem Normierer des Punktes, einem Wolgadeutschen, drei Tage Karzer verpasst hat, weil dieser Unglücksrabe einen Barackenwart in der Arbeitsabrechnung als Heizer und Reinigungskraft bezeichnet hat. «Kann denn von euch Sauhunden keiner richtig schreiben?!», brüllt er beim Antrittsappell. Da ich eine Chance erblicke, melde ich mich. Er lässt mich vortreten, fixiert mich und fragt: «Kannst du auch rechnen?» Da ich das ebenfalls bejahe, werde ich sogleich zum neuen Normierer befördert.
Zur Berechnung der Normen komme ich jedoch nicht. Am Vormittag des 2. Mai studiere ich im Büro die Normative und Koeffizienten (dabei fühle ich mich wie im siebten Himmel) und kann abends auch noch die Arbeitsberichte der Brigaden entgegennehmen. Dann aber erfährt Bestushew, dass ich «Deutschländer» bin, stürmt fluchend in die Schreibstube und jagt mich wie einen räudigen Hund hinaus. In Schutz genommen werde ich seltsamerweise von dem Kulturobmann Darlinger, der wohl hofft, meine Schreib- und Lesekünste für seine Zwecke nutzen zu können. Ohne Bestushew zu informieren, beruft er mich zum «ehrenamtlichen Propagandisten» der Baracke, was indes nur besagt, dass ich alle zwei bis drei Wochen, wenn sich mal eine Prawda oder ein Uralski rabotschi * zu uns verirrt, den Leuten die Leitartikel vorlesen muss. Interessierte Zuhörer gibt es allerdings nur drei oder vier, die übrigen kümmern sich um ihre Fußlappen oder um ihr Teewasser und lassen die vaterländisch-schwülstigen Texte an ihren Ohren vorbeirauschen.
Aber noch bevor ich Propagandist werde, habe ich ein außergewöhnliches Erlebnis. Als ich an diesem Flicktag gebückt auf meiner Pritsche sitze und unbeholfen an meinen schiefgetretenen Gummitramplern herumstochere, gesellt sich ein ehemaliger Kulak (Spindler oder so ähnlich) zu mir, erteilt ein paar Ratschläge und nimmt mir dann die Reparatur großzügig aus der Hand. Er hat sogar eine Ahle dabei, mit der er fachmännisch Löcher in die zähen Pneureste sticht. Die wissen, was man hier braucht, geht es mir durch den Kopf. Nach einer Weile setzt sich auch sein Bruder zu uns und sagt nach kurzem Schweigen: «Du bist doch aus Deutscherland. Was hat denn der Hitler für eine Fahne?» Ich antworte: «Rot mit einem weißen Kreis in der Mitte und darauf ein schwarzes Hakenkreuz.» Nach einem Moment des Überlegens bemerkt der Spindler-Bruder nüchtern: «Rote Fahnen haben wir ja genug, und wenn die kommen, können wir einen weißen Fleck draufnähen, aus einem Laken oder so, und schwarze Farbe wird sich auch finden.»
In meinem Kopf blitzt der Gedanke auf, dass die Verdächtigungen gegen die Wolgadeutschen vielleicht doch berechtigt waren? Dann aber sage ich mir, dass die Frage nach der Fahne keine profaschistische Äußerung ist, sondern nur Ausdruck der Anpassungsbereitschaft, die die Machthaber den Ehemaligen mit brutalen Methoden anerzogen haben.
Zugleich frage ich mich, ob die Bemerkung des Spindler-Bruders nicht eine Provokation ist. Sind die beiden etwa damit beauftragt, mich auszufragen? Allerdings würde man zwei unbedarften Analphabeten kaum einen solchen Auftrag geben. Trotzdem stecke ich in einer kniffligen Situation. Ich kann die beiden unmöglich denunzieren, andererseits muss ich zu der Äußerung Stellung nehmen. So sage ich möglichst ruhig: « Die kommen nicht bis hierher. Hitler
Weitere Kostenlose Bücher