Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
verliert den Krieg.» Mein Helfer legt die Gummitrampler beiseite und meint nachdenklich: «Hm, das sagt die Obrigkeit auch. Aber vielleicht kommt’s anders.»
Nach meinem Rausschmiss aus der Schreibstube werde ich einer Brigade auf dem Holzlagerplatz neben der Zone zugeteilt. So entfällt immerhin der beschwerliche Weg zur Arbeitsstelle. Ein weiterer Gewinn ist, dass wir bei miesem Wetter hin und wieder für ein paar Augenblicke in die zwischen den Stapeln versteckte Bretterbude schlüpfen können.
Wir entladen die kanadischen Schlitten, die die Traktoren (jetzt ohne Schnee) über den Sumpfboden aus dem Wald heranziehen, sortieren die Stämme und karren sie, um die schleunige Verladung vorzubereiten, auf lorenähnlichen Gestellen zum Bahndamm. Selbstredend sind wir die Ersten, die zum Beladen der Waggons verdonnert werden, wenn ein Zug ankommt. Diese gottverdammte Schinderei erwischt uns natürlich immer unter den ungünstigsten Bedingungen – bei Wolkenbruch oder wenn man völlig erschöpft ist und sich auf die Kantine freut.
Die Loren mit den Stämmen schieben wir dann zu viert an die Eisenbahngleise heran. Wenn nur einer nicht richtig mitzieht, bleibt die Lore stecken. Ich beiße die Zähne zusammen und bemühe mich, nicht hinter den anderen zurückzustehen.
Da wir die Gleise für die Loren selbst verlegen müssen, die Entfernungen aber oft nicht so genau messbar sind, klappt es in der Regel mit der Normerfüllung. Anteil daran hat der Brigadier, ein gewisser Artur Gordé, der sich als Pfiffikus erweist, mit allen erdenklichen Koeffizienten jongliert und beim Sortieren auch mal einen versteckten Ast im Stapel astloser Rundhölzer durchgehen lässt.
Manchmal, wenn der Traktor einen Motorschaden hat oder ein schlecht beladener kanadischer Schlitten auseinanderbricht, können wir eine Ruhepause einlegen. Bei schönem Wetter setzen sich die Leute dann an die Sonne und erzählen, was sie bei ihren Frauen und Müttern zu essen bekommen haben. Ich beteilige mich nie an solchen Gesprächen, schalte stattdessen ab, lege mich oben auf einen von den Strahlen angewärmten Stapel und schaue den Wolken nach.
Einen richtigen Frühling gibt es in diesen Breiten nicht. Schlagartig folgt auf den Winter der Sommer. Wie auf ein Zauberwort hüllen sich die gestern noch kahlen Birken und Espen in Laub, und auf den rötlichen Zweigen der Lärchen sprießt plötzlich zartgrüner Flaum. Nur die Triebe an Tannen und Kiefern gönnen sich etwas mehr Zeit. Allerdings vermisst man das Gezwitscher der Vögel. Obwohl die Tage hier im Norden immer länger (bald schon unerträglich lang) werden, scheint es das gefiederte Volk hier nicht zu geben.
Unweit des Holzplatzes befindet sich ein kleines umzäuntes Geviert, die ehemalige Frauenzone. Jetzt sind dort ein paar rund um die Uhr beschäftigte Sträflinge untergebracht – Heizer und Monteure des Mini-Kraftwerks, Lageristen, Frachtbegleiter, die hier «Expeditoren» genannt wurden. Sie sind Freigänger und haben schon etliche Haftjahre hinter sich. Mitunter wechseln wir mit ihnen ein paar Sätze, von echter Gesprächsbereitschaft kann allerdings bei ihnen keine Rede sein. Sie sind zumeist «Politische» und entsprechend misstrauisch. Immerhin lernen wir dort einige Vokabeln des Lagerjargons. Eine Durchsuchung der Baracken oder auch der Häftlingstaschen heißt zum Beispiel schmon , Selbstverstümmelung mastyrka , jede Art obrigkeitsschädigender Betrug tufta *. Die Kriminellen ( blatnye ), die sich auf Gedeih und Verderb dem Gesetz ( sakon ) der Unterwelt verschrieben haben, sind urkatschi (oder urki ), die aus dem Verbrechermilieu Ausgeschiedenen hingegen suki (Hündinnen). Vermuten die Ganoven, dass jemand sie beim Ausbrechen aus ihrem Kreise verraten hat, so stimmen sie demokratisch darüber ab, ob der Ausbrecher den Tod verdient hat oder nicht – andere Strafen gibt es in diesem Milieu nicht. Vollzogen wird das unanfechtbare Urteil durch barbarisches «Setzen»: Der Verurteilte wird von seinen Ex-Kumpanen so lange hochgehoben und immer wieder mit dem Steiß auf den Fußboden gerammt, bis sein Rückgrat bricht und er elendiglich verendet.
Gelegenheits- und Kleinstverbrecher werden von den Kriminellen mushiki (Bauern) genannt. Außerdem erfahren wir von den alten Sträflingen noch mehr über den berüchtigten Artikel 58 des Strafgesetzbuches der RSFSR* (Artikel 56 der Ukrainischen SSR), nach dem alle «Politischen» verurteilt sind. Neben den 14 Unterpunkten (darunter der am
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