Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
häufigsten angewandte Punkt 58 – 10: «konterrevolutionäre Propaganda») gibt es nämlich noch Buchstabenkombinationen, nach denen angebliche politische Delikte oder Delinquenten unterschieden werden, beispielsweise SWE* ( sozialno-wrednyi element , «sozial schädliches Element») oder, weit schlimmer, SOE* ( sozialno-opasnyi element , «sozial gefährliches Element»), KRA* («konterrevolutionäre Agitation»), ASA* («antisowjetische Agitation») und KRTD* («konterrevolutionäre terroristische Tätigkeit»). Am schwersten haben es die, denen KRTTD* («konterrevolutionäre trotzkistisch-terroristische Tätigkeit») angelastet wird. Davon gibt es indes nur wenige, sie werden meist gleich nach dem Prozess (oder auch ohne Prozess) erschossen.
Besonders grotesk ist, dass manchen Verurteilten nicht einmal ein Verbrechen unterstellt wird, zum Beispiel denen, die das Kürzel PSch* («Spionageverdacht») trifft. Unter diese Rubrik fallen Leute, die im Ausland waren, denen aber keinerlei Vergehen nachgewiesen werden kann (könnte man das, hätte man ihnen eine schwerer wiegende Buchstabenkombination aufgebrummt). Geradezu lächerlich erscheint daneben die Kombination TschSIR* («Familienmitglied eines Vaterlandsverräters»), die, genau genommen, schon in der Formulierung die Unschuld des Beschuldigten festschreibt. Wenn nämlich ein Familienmitglied Kenntnis vom vermeintlichen Verrat seines Verwandten bekäme, träfe auf ihn Artikel 58, Absatz 12 zu, der im Lagerjargon snal i ne skasal (wusste, aber schwieg) genannt wird.
Der Einzige, der sich aus unserem Loren-Quartett in diesen sozialistischen Sprachschöpfungen einigermaßen auskennt, ist ein ehemaliger Transportarbeiter aus Baku, der schon im Knast gesessen hat. Er heißt Schatron und kann allein eine mit Holz bepackte Lore vom Fleck bewegen. In seinen Augen zählt nur die Muskelkraft, sodass er uns allesamt als Schwächlinge verachtet. Doch auch sein Überlegenheitsgefühl wird allmählich ausgedünnt, denn Wassersuppe und 600 Gramm Brot lassen mit der Zeit seine Muskeln schrumpfen. Ich begegne ihm, nachdem ich aus der Brigade ausgeschieden bin, mehrmals bei nächtlichen Verladearbeiten und nehme seinen fortschreitenden Verfall wahr. Es dauert nicht lange, bis selbst von diesem Recken nur noch ein mit Haut überzogenes Skelett übrig bleibt.
UM EIN HAAR ZUM VOLKSFEIND GESTEMPELT
Es ist wohl mein Schicksal, nicht von Säge und Beil loszukommen. Kaum dass ich mich ein bisschen an die Arbeit auf dem Stapelplatz gewöhnt habe, werde ich wieder in den Wald geschickt.
Hier in einem Jagen, in dem vor allem Grubenholz geschlagen wird, arbeiten wir nicht mehr in Sechser-Gruppen, sondern zu zweit. Die Holzfäller müssen auch die Äste abschlagen, die nun – im Sommer – wegen der Waldbrandgefahr nicht verbrannt, sondern zu großen Haufen zusammengetragen werden. Die Vorschrift bestimmt, dass die aufgeschichteten Stapel in der Frostperiode angezündet werden, doch wenn es so weit ist, kümmert sich natürlich keiner mehr darum.
Mein Zugführer ist Trotno, mit dem ich gut auskomme. Mein Partner ist ein etwa fünfundvierzigjähriger Moskauer Ingenieur, Robert Fjodorowitsch Schtrauchman. Sein jüngerer Bruder Viktor (auch Ingenieur), ein mit allen Wassern gewaschener Kerl, wird später mein Chef im Soswaer Projektierungsbüro. Die beiden sind aber so verschieden, dass man sie kaum für Brüder halten kann. Robert ist eine Seele von Mensch, einfühlsam und mit einem Gespür für Kunst und Natur. Wir verstehen uns gut. Auch als Zweiergespann sind wir bald aufeinander eingespielt. Wenn wir einen Baum ansägen, nehmen wir im gleichen Moment die Beile zur Hand und hauen mit sich rhythmisch abwechselnden Schlägen die Fallkerbe heraus. Sobald der Baum fällt, legt einer das Maß an, während der andere die Schnittstelle markiert. Beim Ästeabhacken wuchtet Robert mit dem Beil, und ich schleife die Äste auf einen Haufen. Wir arbeiten bis zur Erschöpfung, und mit ein bisschen tufta schaffen wir die Norm.
Eine wahrhaft scheußliche Plage sind die Mücken. Man kann sich ihrer nicht erwehren, sie umschwärmen einen in dichten Wolken und lassen nichts unversucht. Sie bestürmen Hals, Gesicht und Hände, und wenn man sich hinsetzt, ist das ganze Hosenbein sogleich von einer schwarzen Schicht überdeckt. Zwar hatte man an die Holzfäller Mückenschutzhelme ausgegeben, doch benutzen wir sie nicht, denn man kann in ihnen nicht arbeiten. Beim intensiven Atmen bleibt einem
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