Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
die Luft weg.
Ganz schlimm wird es im August, wenn (Gott sei Dank nur für zwei Wochen) winzige Fliegen, moschki genannt, in der Taiga auftauchen. Sie sind kleiner als die Löcher in den Mückennetzen, setzen sich in Nase und Ohren fest, belagern die Lippen und peinigen die ununterbrochen triefenden Augen. Es wird erzählt, dass die Kriminellen einmal einen besonders verhassten Wachsoldaten entwaffnet und halb entkleidet an einen Baum gebunden hätten. Als man ihn nach Stunden auffand, sei er von diesen Biestern völlig zerstochen gewesen und – tot.
Wenn Robert und ich uns eine halbe Stunde vor Feierabend erschöpft ans Feuer setzen, legen wir nasse, also qualmende Scheite in die Flammen und stellen uns mitten in die dichten Rauchwolken hinein. Doch die Mücken geben sich erst geschlagen, wenn auch wir fast ersticken.
Als mein Partner ein Paket von seiner Frau erhält, bringt er ein Stück Speck mit in den Wald und teilt es mit mir. Alle Achtung! Da er auch etwas maschok (so heißt richtiger Tabak im Lagerjargon – im Gegensatz zu machorka ) bekommen hat, rauchen wir zusammen. Geschwächt, wie ich bin, bin ich schon nach zwei, drei Lungenzügen benebelt, mich überkommt ein unbeschreiblich wohliges Gefühl. Ich entfleuche dieser Welt.
Nur zu gern würde auch ich ein Paket von meiner Frau bekommen, aber von Veronika habe ich schon lange nichts mehr gehört. Und was könnte sie mir aus Kasachstan schicken?
Bisweilen denke ich auch an Vera, meine erste Frau, der ich, um etwas über unser Töchterchen zu erfahren, schon aus Kasachstan geschrieben habe. Nun beschließe ich, ihr wieder zu schreiben, sobald ich ein Stück Papier ergattere. Da ich das jetzt aber nicht wegen des Töchterchens, sondern in heimlicher Hoffnung auf ein Paket tue, fühle ich mich wie ein Schweinehund. Jedoch – lieber als Schweinehund überleben als als ehrenwerter Mann krepieren. Ich gestehe mir ein, keinen Deut besser zu sein als die anderen.
Als ich endlich ein Schreibpapier von der Größe einer Heftseite ergaunere (aus kleineren kann man keine Postdreiecke* kniffen), getraue ich mich aber nicht, allzu deutlich zu werden. So schildere ich ihr nur, dass ich jetzt die Züge mit Stämmen belade, die so häufig auf der Station Perlowka an uns vorbeigerauscht sind. Seinerzeit hatten wir uns, wenn wir die Durchsage «Zurücktreten von der Bahnsteigkante – eine Durchfahrt» vernahmen, nie gefragt, woher diese Züge kamen und wer sie beladen hatte.
Nach drei Wochen antwortet Vera mit einem aufmunternden Brief. Meinen geheimen Wunsch hat sie nicht erraten. Vielleicht besser so.
Auf Schreibpapier bin ich auch noch aus anderen Gründen scharf. Ich verdiene mir nämlich ein Zubrot, indem ich mir von den Wolgadeutschen, die allenfalls die gotischen Buchstaben kennen, Briefe diktieren lasse, die ich – weil die Zensur nur solche durchlässt – ins Russische übersetze. Armselige Mitteilungen! Der Text war fast immer der gleiche: «Liebe Frau (oder Vater, Mutter, Schwester, Bruder), einen guten Tag wünsche ich Euch sowieso. Hoffentlich seid Ihr gesund. Ich verneige mich auch vor dem Opa und der Oma, vor Onkel Gustav und Tante Else, Onkel Karl und Tante Lore sowie vor den Neffen und Nichten. Einen Gruß sende ich auch an die Gevattern. Von hier grüßt Euch der Vetter Sowieso und unser Nachbar Sowieso. Hier ist es kalt. Gestern hat es geregnet.» Dann folgt schon der Abspann wieder mit Grüßen an die nahe und ferne Verwandtschaft. Manchmal denken die Auftraggeber der Briefe lange nach, wie dieser oder jener Onkel beziehungsweise die eine oder andere Tante heißt. Mit der Zeit höre ich auf, mich über die Inhaltslosigkeit dieser Briefe zu wundern. Diese Briefe sind Lebenszeichen. Die Angehörigen sollen auf diese Weise an das sich in der Ferne abplagende Familienmitglied erinnert werden.
Für einen Brief kassiere ich 100 Gramm Brot – inklusive Papier. Wenn ich zwei Blatt Papier auftreibe, bringe ich es auf einen Nebenverdienst von 200 Gramm pro Woche. Öfter bieten mir die Briefschreiber auch als Entgeld machorka an, aber darauf gehe ich nie ein. Erstens habe ich beobachtet, dass diejenigen, die das Qualmen nicht aufgeben konnten, anfangen, allen möglichen Mist zu paffen (wie zum Beispiel paklja , das Moos, das zum Abdichten zwischen die Wandbalken gestopft ist). Zweitens – und das wiegt schwerer – habe ich festgestellt, dass alle, die Brot gegen Rauchzeug eintauschten, früher oder später ihr Leben aushauchten. So ergibt sich
Weitere Kostenlose Bücher