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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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nebenbei, dass mein Lageraufenthalt – von der Kindheit abgesehen – zur längsten Nichtraucherperiode meines Lebens wird.
    Auch lese ich (natürlich umsonst) den Ex-Kulaken die Briefe ihrer Frauen und Mütter vor, die in Kasachstan einem Schreibkundigen diktiert worden waren. Dabei erschüttert mich sowohl die Nachricht als auch die Reaktion auf die Mitteilungen. Als ich einem Kumpel den stocknüchternen Bescheid seiner Frau vortrage, dass ihr Baby gestorben sei, lässt er nur einen Mutterfluch los – der übrigens oft das einzige russische Idiom ist, das die Wolgadeutschen können.
    Meine Zeit mit Robert Schtrauchman könnte trotz der Umstände einigermaßen erträglich sein, wenn nicht ständig das Damoklesschwert zusätzlicher Verladearbeiten über uns hinge. Oftmals, wenn wir ausgelaugt von der Arbeit kommen, hören wir bereits im Walde die Pfiffe der Lokomotive und wissen, was uns bevorsteht. Da meist schon kostbare Zeit verplempert ist (das Lager muss beim Überschreiten der Verladefrist Konventionalstrafe zahlen), werden wir nicht mehr in die Zone gelassen, sodass uns die dürftige balanda entgeht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als Sägen und Beile in der instrumentalka abzugeben und uns mit knurrendem Magen die Waggons zuteilen zu lassen.
    Gewöhnlich beladen je zehn Leute zwei Waggons. Zunächst werden die schweren rotbraunen Kästen zu den abzuräumenden Stapeln geschoben. Da kann man froh sein, wenn man mit Schatron, dem Muskelpaket, in eine Gruppe kommt. Er schiebt nicht nur für fünf Mann, sondern beherrscht auch den rhythmischen Singsang der Transportarbeiter (so ähnlich wie das Jei, uchnem! aus dem Lied der Wolgatreidler), der fast automatisch das gleichzeitige Anstemmen aller Arme und Beine bewirkt. Schwierig ist es, den ins Rollen gebrachten Wagen wieder zum Stehen zu bringen.
    In der Regel sind sechs Leute die eigentlichen Schlepper – während zwei andere am Stapel stehen und den Trägern die Stämme auf die Schultern hieven; noch zwei weitere nehmen sie im Innern des Wagens ab und schichten sie auf. Ein vierachsiger Waggon hat ein Volumen von 64 Kubikmetern, sodass (wenn man ein Viertel des Umfangs für Hohlräume zwischen den Balken abzieht) 150 Rundhölzer mit einem Durchmesser von 28 Zentimeter und einer Länge von 1,60 Meter hineingehen. Für zwei Waggons macht das 300 Rundhölzer. Jeder der sechs Schlepper muss also während einer Verladeschicht 50-mal die Strecke vom Stapel zum Waggon und zurück absolvieren – mit 1,60 Meter Stammholz auf der Schulter. Das Problem ist die Waggonschwelle, die man übersteigen muss. Sie befindet sich am Ende der nach oben führenden Stiege, auf die der Schlepper mit seiner Last hinaufklettern muss. Jeder Schritt ist quälend. Die Beine gehorchen dem Willen nicht mehr, die Füße finden keinen Halt. Unwillkürlich zählt man die auf das steile Doppelbrett genagelten Querleisten. Und jedes Mal, wenn man den Schritt über die Schwelle geschafft hat, atmet man erleichtert auf, doch dann geht es schon zum nächsten Aufstieg.
    Fünfzig Hin- und Rückwege reichen noch nicht einmal aus, weil die dicksten und schwersten Hölzer nur zu zweit geschleppt werden können. Das ist zu bewältigen, solange die Hölzer 1,60 Meter messen. Es gibt aber auch Birkensortimente, die nur 89 Zentimeter lang sind. Wenn man solche kurzen Klötzer zu zweit schleppt, tritt der Hintere dem Vordermann unweigerlich in die Hacken, sodass dieser Mühe hat, nicht zu straucheln.
    Eines Abends haben wir besonderes Pech. Wir werden – wieder ohne die abendliche Wassersuppe – zum Verladen der 89 Zentimeter langen Birkenstämme eingesetzt. Der Stapel, den wir abräumen müssen, ist weit von den Gleisen entfernt und besteht auch aus schon aussortierten und wieder aufgeschichteten Restbeständen, die wir vorher beseitegelegt hatten, weil sie für einen Mann zu schwer und für zwei zu klobig waren. Jetzt sind aber keine anderen Bestände mehr da, und wir müssen uns mit den dicken Brocken abquälen. Erst haben wir versucht, sie zu zweit zu schleppen, dann aber mühen wir uns doch einzeln mit ihnen ab. Vor Erschöpfung können wir kaum noch sprechen. Ohne Worte vereinbaren wir, dass wir, um den Trägern wenigstens kleine Verschnaufpausen zu gönnen, Träger und Heber nach fünf oder sechs Gängen wechseln. Als ich wieder mit Tragen dran bin, legen mir die Jungs ganz vorsichtig einen Klotz auf die Schulter. Trotzdem muss ich die Zähne zusammenbeißen – die Schulter schmerzt,

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