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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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ich glaube, im nächsten Moment zusammenzubrechen. Lamentieren nützt nichts – wir müssen diese verfluchte Nacht hinter uns bringen.
    Mit großer Mühe das Gleichgewicht wahrend, setze ich ein Bein vor das andere und bin schon völlig entkräftet, bevor ich die Stiege erreicht habe. Ich zähle die Stufen … zehn, elf, oben . Dann schaffe ich es gerade noch, den Klotz über die Schwelle auf den Blechboden des Waggons so hinzuwerfen, dass ich selbst unversehrt bleibe. Die Abnehmer, die sich nun nach dem schweren Stamm bücken und ihn aufheben müssen, schimpfen. Auch beim nächsten Klotz gelingt es mir gerade noch, mich der Last zu entledigen, indem ich sie den Leuten im Waggon vor die Füße schmeiße. Dann bin ich gänzlich am Ende. Beim nächsten Gang auf der Stiege spüre ich, wie die Last von meiner Schulter rutscht und ich in einen Abgrund stürze …
    Erst im Krankenzimmer komme ich zu mir. Undeutlich höre ich Wagners Stimme: «Gebt ihm eine Schüssel Suppe.» Meine Lebensgeister erwachen, ich hebe den Kopf und schaue nach dem Blechnapf. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis man mir die balanda bringt. Ich schlürfe sie gierig in mich hinein und fühle mich danach so gekräftigt, dass ich mich aufrichten kann. Aber Wagner behält mich über Nacht im Medpunkt.
    Als ich am nächsten Morgen auf den Appellplatz komme, lässt mich der Chef der Wachmannschaften – völlig unerwartet für mich – in den Karzer abführen. Es stellt sich heraus, dass ich wegen «Arbeitsverweigerung» – als solche sieht man meinen Sturz von der Stiege an – zu drei Tagen Arrest bei 300 Gramm Brot verdonnert bin. Natürlich protestiere ich, aber umsonst. Man schubst mich in das von einem Extrazaun umgebene Häuschen neben der Zone, das nach einem verballhornten deutschen Wort gauptwachta heißt.
    Der Karzer wird von Alexej Jakowlewitsch Knopf betreut, einem Moskauer Architekten, mit dem ich später jahrelang im Projektierungsbüro zusammenarbeitete. Er ist ein tollpatschiger Mann, glatzköpfig, mit rundem Gesicht. Später, in Soswa, lernte ich ihn schätzen, er hat Humor und relativiert alles, was er sagt, durch eine merkwürdig fragende Betonung. Hier aber, bei unserer ersten Begegnung, ist von seinem Humor nichts zu spüren. Er ist durch den Hunger körperlich heruntergekommen und auch psychisch ausgeflippt, ein Wrack. Seine Rettung ist, dass ihm jemand den Schließerposten verpasst hat.
    Knopf nimmt mich kaum wahr, als ich eingeliefert werde. Er schließt meine Zelle auf, in der gerade genug Platz für eine Pritsche und einen verrosteten Scheißeimer ist. Es gibt noch eine weitere Zelle, in der dritten haust Knopf selbst. Da die Wände dünn sind, kann ich mithören, was dort vor sich geht. Der dauernde Hunger hat den kräftigen Mann um den Verstand gebracht. Mein Wärter ist offenbar gerade aus der Kantine zurückgekommen und führt Selbstgespräche. «Na, Alexej Jakowlewitsch», sagt er zu sich selbst, «wollen Sie jetzt frühstücken, oder hat das noch Zeit?» Er überlegt eine Weile und gibt sich dann zur Antwort: «Nein, nein, ich habe noch keinen Hunger … Das Abendbrot gestern war ja sooo reichlich.» «Nun, wenn Sie keinen Appetit auf Suppe haben, vielleicht ein kleines Stück Brot?» «Ja, vielleicht.» Und nach einem weiteren nachdenklichen Augenblick: «Oder doch lieber nicht. Sonst liegt es zu schwer im Magen. Und man soll sich ja nicht überfressen.» «Aber ein Häppchen vielleicht, so zum Appetitanregen?» «Verflixt noch mal!» antwortet er mit zorniger Stimme. «Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nichts möchte. Die ganze Esserei ist mir zuwider.» Und nach einer Pause: «Am besten gehe ich erst mal ein bisschen an die Luft. Dann stellt sich auch der Appetit ein. Dabei kann ich ja nachschauen, ob ich ein paar Brennnesseln finde. Die sind gesund. Und schmecken vortrefflich. Mit ihnen kann man die Suppe veredeln.»
    Knopf schlägt die Tür zu. Nach geraumer Zeit kommt er zurück und wendet sich an die Brennnesseln: «Jetzt werde ich euch, ihr Lieben, erst mal waschen. Auch ein bisschen zerkleinern schadet nicht … Vielleicht wäre eine Prise Salz nicht verkehrt – aber wo denken Sie hin, Alexej Jakowlewitsch, Salz ist doch schädlich. Man sollte Salz überhaupt verbieten …»
    Ich versuche mich zu erinnern, wie sich früher Leute, die eingesperrt waren, gegen den Wahnsinn zur Wehr gesetzt haben, Dostojewski zum Beispiel, Vera Figner oder Max Hoelz. Aber bei allem Elend, das sie durchzustehen

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