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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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poltert er die Kellerstufen hinunter und fragt: «Wer war eben draußen?» Nichts ahnend zeigen die Jungs auf mich. «Also du, Bürschchen», zischt Wegner, «hast diesen Sack (er zieht ihn unter seiner Wattejacke hervor) in der Schneewehe versteckt! Das gibt ein Nachspiel! Und hier bist du zum letzten Mal gewesen!» Ich leugne natürlich, aber das hilft nicht.
    Abends steckt man mich wieder für drei Tage in den Karzer, mit 300 Gramm Brot und dazu noch mit diesen nicht ausgeheilten Furunkeln. Es ist mein erster Karzeraufenthalt im Winter. Da es keine Decken gibt und mein schäbiger Mantel die Kälte nicht abhält, friere ich jämmerlich. Wenn ich mich bemühe, an diese 72 Stunden zurückzudenken, kann ich mich an keine Einzelheiten entsinnen. Vielleicht hatten meine Lebensgeister schon begonnen einzuschlafen. Jedenfalls bin ich völlig ausgelaugt und verfüge nicht mehr über die Kraft, mir mathematische Aufgaben zu stellen oder Geschichtsdaten aufzusagen. Ich dämmere einfach dahin, nehme meine Umgebung nur zum kleinen Teil wahr. Ich erinnere mich nicht einmal, wer der Bewacher des Bunkers war und wie er mir die lächerlichen 300 Gramm Brot und die Wassersuppe in meine Zelle brachte.
    Gut entsinne ich mich jedoch an den Abend, als ich den Karzer verlassen konnte. Da habe ich nämlich einen Ex-Kulak regelrecht verprügelt. Woher ich die Kraft zu meiner einzigen Schlägerei im Lager nahm, ist mir bis heute unerfindlich. Plötzlich war ich so sauer auf diese Welt, auf all ihre Ungerechtigkeiten und Gaunereien, dass ich über mich hinauswuchs. Das sah man mir vermutlich auch an, weshalb sich der Kulak, der viel stärker war als ich, kaum gewehrt hat. Der Grund für meine Wut: Als ich an jenem Abend auf meine Pritsche kletterte, sah ich, dass unter mir ein Ehemaliger ein Ziegenbeinchen mit gotisch bedrucktem Papier rauchte. Sofort begriff ich, dass der Mann einen Schnipsel aus meinem Goethe-Band mit Aphorismen in den Fingern hielt. Mich erfasste eine solche Wut, dass ich mich auf ihn stürzte und mit aller Kraft auf ihn eindrosch. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah. Erst als ich ihn einen verfluchten Spitzbuben und Dieb schimpfte, begriff er, was mich so aufgebracht hatte, und versicherte hoch und heilig, dass er das Papier nicht geklaut, sondern eingetauscht habe.
    Nach meinem Karzeraufenthalt (die Furunkel sind wieder schlimmer geworden) lanciert mich Antonina Michailowna in die Brigade der Bastschuhflechter. Zweifellos lässt sie sich dabei von den besten Absichten leiten, doch da hat sie mich falsch eingeschätzt. Die Norm beträgt fünf Paar am Tage, ich aber schaffe gerade anderthalb Paar. Selbst nachdem ich mich sieben oder acht Tage eingearbeitet habe, beherrsche ich den Beginn des Flechtevorgangs nicht, den Ansatz des Hackens. Die Kalamität ist, dass man das Bastschuhflechten entweder schnell oder gar nicht zustande bringt, weil die rasch austrocknenden Spitzen der Riemen zerfransen und man sie, sobald sie brüchig sind, nicht mehr unter die quer laufenden Streifen hindurchschieben kann. Es ist, als wollte man das auseinandergezwirbelte Ende eines Fadens durch ein Nadelöhr zwängen.
    Die Wolgadeutschen, die das Bastschuhflechten von klein auf erlernt haben, machen sich lustig über mich. «Ha, der Moskauer», feixen sie, «aufs Papier zeichnen kann er’s bestimmt, aber machen nicht.»
    So bitte ich nach 14 Tagen Bastschuhflechten (bei 300 Gramm Brot!) Antonina Michailowna, bei der ich noch immer in Behandlung bin, dem Brigadier zu sagen, dass er mich zum Abholzen der für die Latschen benötigten Lindensträucher in den Wald schicken soll. Da könnte ich wenigstens die Norm schaffen. Aber sie weigert sich: «In deinem Zustand kann ich das nicht verantworten.»
    So unrecht hat sie nicht. Der Junge, der die Lindenbüsche abschlägt und mit dem Pferdeschlitten in die Zone bringt (er ist Student, heißt Goldenau, und ich habe mich mit ihm – sofern ein solches Wort hier angewendet werden kann – etwas angefreundet), kommt eines Tages nicht aus der Taiga zurück. Man merkt es erst, als sein Pferdchen zitternd vor der Wachbude steht. Als man den Spuren im Schnee nachgeht, findet man ihn schon erstarrt neben einem Lindengestrüpp. Dort ist er tot umgefallen.
    Zu allem Unglück erhalte ich kurz darauf noch einen Brief meiner ersten Frau, in dem sie mich bittet, alle Kontakte zu ihr abzubrechen, weil sie wegen ihres deutschen Namens große Schwierigkeiten habe und sich mit dem Gedanken trage, ihren

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