Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
in petto. Er greift zu einer anderen Mappe, sieht hinein und fragt: «Weißt du wenigstens, wer Seraphim ist?»
Ach du Scheiße! Das war der Deckname, den sie mir in der Siedlung Nr. 11 verpasst haben. Offenbar wollen sie mich wieder zum Zuträger machen. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken und sage dann ungerührt: «Seraphim? Nein, nie gehört!»
«Bist du so dämlich, oder tust du nur so?», braust mein Vernehmer auf. Doch dann besinnt er sich, denn er will ja etwas von mir. «Das bist du selbst», belehrt er mich und versucht eine freundliche Miene aufzusetzen. «Du hast doch in Ossokarowka eine Verpflichtung unterschrieben.» Ich lasse mich, Gedächtnislücken vorschützend, an den Besuch des oper im fernen Kasachstan erinnern und sage zum Schluss: «Ja, ja, wird wohl so gewesen sein.» Nun scheint er zufrieden zu sein und fordert mich auf, künftig regelmäßig Berichte über die Stimmung unter den Arbeitsarmisten abzuliefern. Eine erneute Unterschrift verlangt er mir nicht ab. Auch werde ich in der Folgezeit nie mehr an die Zusage erinnert, anscheinend werde ich als taube Nuss eingestuft. Erleichtert verlasse ich das Tscheka-Büro.
Es ist nicht das erste Mal, dass mich der Zufall aus einer schier aussichtslosen Situation befreit hat. Allmählich beginne ich, ihm Bedeutung zuzumessen.
DIE SCHLIMMSTE ZEIT BEGINNT
Einige Tage später wird uns beim Morgenappell eine Leiche vor die Füße geworfen. Es ist der tote Klimowski, ein junger Mann aus dem Rayon Melekess, mit dem ich ab und zu ein paar Worte gewechselt habe. Er hatte mir erzählt, dass er in einem ausgebrannten Waldstück unweit seines Arbeitsplatzes ein Himbeerparadies entdeckt habe. Man könne sich dort an einer Stelle niedersetzen und sich, ohne aufzustehen, den Bauch vollschlagen.
Die grausige Überraschung hat sich bereits angekündigt. An zwei Abenden zuvor sind die Zählungen mehrmals wiederholt worden, und die Gerüchteküche meldete, dass ein Mann fehle. Dann ist durchgesickert, dass es Klimowski sei. Manche sprechen von Flucht, doch das ist unwahrscheinlich (während meines Lageraufenthalts habe ich nur einmal von der erfolgreichen Flucht eines Kriminellen gehört). Und nun liegt Klimowski vor uns, regungslos, das Gesicht nach unten gekehrt, seltsam verrenkt.
Bestushew tritt vor die Truppe und bellt: «Hier, ihr Mistkerle, schaut euch das gut an. Jeder, der abhaut, endet so wie der. Mit Deserteuren wird kurzer Prozess gemacht!» Also erschossen, denke ich. Doch mir scheint, dass der Leichnam, der 15 Schritt vor mir liegt, keine Schusswunde aufweist. Verbreitet man die Mär, dass man ihn abgeknallt habe, um uns einzuschüchtern? Aber die meisten hören Bestushew nicht einmal zu. Sie halten den Blick gesenkt – und denken vermutlich ans Essen, an die Norm, an die Mücken, die sie in der Taiga erwarten.
Die Tage werden wieder kürzer. Morgens und abends weht ein kalter Wind. Mein zweiter Winter im Lager kündigt sich an. Ein Septembertag bleibt für mich unvergesslich, nicht zuletzt, weil er meiner Partnerschaft mit Robert Fjodorowitsch ein Ende setzt. Vormittags scheint noch die Sonne, dann verdunkelt sich der Himmel, Sturmböen jagen Wolken vor sich her. Nasse Flocken verkleben die Augen. Ringsum kracht und splittert es, halbe und ganze Baumkronen sausen zur Erde. Ganz in der Nähe geht ein morscher Stamm mit Getöse zu Boden. Es wird unheimlich.
Die Arbeit gerät ins Stocken. Immer häufiger sorgt der Wind dafür, dass die Säge klemmt. Eine Kiefer, die wir angesägt haben, bricht und stürzt, sich um die eigene Achse drehend, mit ins Unterholz. Robert kann gerade noch zurückspringen, um nicht zermalmt zu werden.
Obwohl die Tagesnorm nicht erfüllt ist, müssen wir die Arbeit abbrechen. Robert fühlt sich schlecht. Wir setzen uns ans Feuer, an dem sich schon zwei Kumpel niedergelassen haben. Es ist dunkel, fast wird der Tag zur Nacht. Man hört die eigene Stimme kaum. Gesprochen wird wenig. Wir rätseln, ob der prijomtschik (es ist der bucklige Miller) bei diesem Wetter noch bis zu uns durchkommt. Käme er wirklich durch, wäre dies fatal, denn er würde uns erbarmungslos nur 50 Prozent der Norm anschreiben.
Auch die Pferdekutscher haben Feierabend gemacht. Jascha und der rothaarige Stotterer aus der Nachbarbaracke kommen mit ihren schwer atmenden Gäulen zu uns. Der Sturm hat den beiden einen Schreck eingejagt. Das Tosen ringsum erweckt sogar in den Ex-Kulaken eine Art Solidaritätsgefühl. Die Pferdewärter lassen uns
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