Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)
Worte treffen mich. Auf meiner Pritsche suchen mich wirre Träume heim. Was steht mir bevor? Werde ich an die Wand gestellt? Oder per Genickschuss erledigt? Im Halbschlaf schrecke ich hoch, spüre den kalten Lauf des Revolvers im Nacken.
Am Morgen ist mir nicht nach Aufstehen zumute. Trotzdem erhebe ich mich. Von der Morgensuppe kriege ich keinen Schluck runter. Auf dem Appellplatz flüstert mir Robert im Vorübergehen zu: «Man munkelt, Pogodin sei nachts verhaftet worden.» Zittern überkommt mich: Ist das ein Lichtblick?
Im Walde rätseln wir lange herum. Wenn Pogodin tatsächlich verhaftet worden ist, hat man bestimmt auch seinen Schreibtisch ausgeräumt. Und da liegt das verfluchte Schriftstück. Sie werden die Geschichte aufbauschen – mit oder ohne Pogodin. Aber wenn es gelänge, die Sache so zu drehen, dass der Tschekist die Akte nur verfasst hat, um von eigenen Schweinereien abzulenken? Doch da müsste jemand zu meinen Gunsten aussagen. Wer würde das wagen? Womöglich Wagner?
Die Norm schaffen wir an diesem Tag nicht. Abends bestätigt sich die Nachricht von Pogodins Verhaftung. Er soll, so sagt man, mit dem ebenfalls verhafteten Versorgungschef Lebensmittel verschoben haben. Da sind auf jeden Fall, denke ich, seine Papiere schon gesichtet worden … Bei jedem Schritt, den ich hinter mir höre, schrecke ich zusammen: Jetzt nimmt man dich fest, denke ich. Aber nichts geschieht. Nachts bestürmen mich wieder Horrorbilder. Schnarrende Stimmen verlesen mein Todesurteil. Man führt mich in einen dunklen Korridor … Schweißgebadet erwache ich.
Am nächsten Tag nehmen wir uns zusammen und schaffen die Norm. Abends passiert wieder nichts. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Doch auch am dritten Abend behelligt mich niemand. Ich kann es nicht glauben: Bin ich wirklich noch einmal davongekommen?
Die nächsten Wochen auf den Bolschaja Kossolmanka sind ein Albtraum. Tagsüber fürchte ich, dass das «Verschwörungspapier» auftaucht, nachts überwältigen mich Horrorszenen, ich erwache schweißgebadet. Als ich nach einigen Tagen wieder zur Opertschek-Abteilung bestellt werde, zittere ich am ganzen Leib.
Der Nachfolger Pogodins fordert mich mit einer beinahe freundlichen Geste auf, mich auf den festgeschraubten Schemel zu setzen (die Schemel in den Vernehmungszimmern sind alle festgeschraubt, damit die Vernehmenden sie nicht zum Zuschlagen benutzen können). Dann ordnet der Uniformierte gelangweilt seine Akten und fragt, Namen aus den Unterlagen verlesend, ob ich diese oder jene Person kenne. Ich bin entschlossen, über niemanden etwas auszusagen, schärfe mir also ein, bei keinem Namen zu stocken oder sonst wie den Eindruck zu erwecken, als zögere ich. Das könnte nur den Verdacht erwecken, dass ich mit dem einen oder anderen bekannt oder gar befreundet gewesen sei. So wiederhole ich nur gleichförmig: «Nein, nie gehört.» Der Unterleutnant nennt Leute aus dem Moskauer Ausländerklub, auch Hilde Tal und Alice Rund, von denen ich weiß, dass sie verhaftet worden sind. Dann wird Walter Ruge genannt. Als ich auch da, ohne zu überlegen, mein «Nein, nie gehört» von mir gebe, brüllt mich der Unterleutnant an: «Mann, bist du so blöd?! Das ist dein Bruder!» Ich tue so, als könne ich mich nur mit Mühe erinnern, und stammle: «Ach ja, natürlich, mein Bruder. Entschuldigung, aber mein Gedächtnis lässt in der letzten Zeit nach. Das Essen …»
Der Kerl unterbricht mich: «Na also! Was weißt du über den?» Ich überlege kurz. Da das NKWD besser als ich weiß, dass er verhaftet ist, sage ich stockend: «Man hat ihn verhaftet.» Das genügt dem Tscheka-Mann nicht. Er sagt: «Du warst doch nach der Verhaftung noch mal in seiner Wohnung.» Aha, denke ich, das wissen sie also, lass dich jetzt nicht reinlegen. Um Zeit zu gewinnen, antworte ich gedehnt: «Ja, kann sein, aber daran kann ich mich nicht erinnern.» Doch er hakt nach: «Wie hast du’s denn erfahren?» Ich versuche jedes Wort abzuwägen. «Könnte sein», sage ich, «dass seine Frau – hm, seine Freundin – bei mir war. Womöglich weiß ich’s von ihr. Aber an Einzelheiten entsinne ich mich nicht.»
Mein Herz hüpft, während ich meine Antworten stammle, denn ich begreife: Dies ist also eine routinemäßige Befragung, kein Verhör wegen der «Verschwörung». Unzufrieden klappt der Mann vor mir den Aktendeckel zu: «So kommen wir nicht weiter.» Richtig, möchte ich ihm beipflichten, also lass mich schon laufen. Doch hat er noch etwas
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