Gelöscht (German Edition)
über ihr Schicksal nachzudenken. Allerdings weiß ich nun, dass ich recht hatte und sie nicht geslated wurde, weil sie ein Verbrechen begangen hat. Sie hat selbst darum gebeten.
Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht zu ihr zu rennen und sie fest in den Arm zu nehmen, als wir nach Hause kommen. Sie würde mich für völlig durchgeknallt halten.
Amy wollte geslated werden, um zu vergessen. Es geht ihr jetzt besser als damals und sie muss nicht mehr leiden.
Es war ihr eigener Entschluss.
Doch was ist mit mir?
Was ist mit Lucy?
Hat sie diese Entscheidung auch freiwillig getroffen?
Ich will es nicht wissen, aber ich höre die Stimmen aus meiner Vergangenheit in meinem Kopf. Und sie verschwinden nicht.
Die Laufstunde findet diese Woche wegen der Trainingstests nicht statt. Slater dürfen nicht an Wettbewerben der Schulteams teilnehmen, also sind Ben und ich ausgeschlossen. Es ist völlig egal, dass wir die schnellsten Läufer der Schule sind oder dass jede Faser meines Körpers nach Erleichterung schreit. Aber ich kann mich nicht wehren: Ich bin ein braver kleiner Slater.
Und was den Tag noch viel wunderbarer macht, ist die Tatsache, dass Amy, ohne mich zu fragen, einfach meinen Sonntagnachmittag verplant hat. Und nach allem, was ich gestern über sie herausgefunden habe, kann ich sie nicht hängen lassen. Obwohl ich nicht übel Lust dazu hätte.
»Kyla? Kommst du endlich?« Amy und Jazz stehen an der Tür, während ich im Schrank nach meiner Jacke suche. Meine offiziellen Pflichten als Anstandsdame beginnen genau jetzt.
Amy schaut zum Himmel hoch. »Bei diesem Wetter bin ich mir überhaupt nicht sicher.«
Doch ich finde es perfekt. Der Himmel ist durchgehend grau und es ist kalt und feucht. Es regnet nicht, aber die Luft fühlt sich schwer und klamm an, als hingen tausend winzige Wasserpartikel darin, die sich nicht zu Tropfen formen können. Das Wetter ist also ziemlich miserabel, aber es passt zu meiner Stimmung.
»Keine Angst, ich bin auf alle Eventualitäten vorbereitet«, sagt Jazz. »Voilà!« Er verbeugt sich vor uns und führt mit seinem riesigen Regenschirm einen imaginären Schwertkampf mit einem Ast.
Wir gehen durchs Dorf bis zum Fußweg und halten dann an. Amy und Jazz lehnen sich an die Steinmauer neben dem Pfad. »Gehen wir nicht weiter?«, erkundige ich mich.
»Doch, gleich«, sagt Amy und schaut auf ihre Uhr. Sie erzählt von ihrem Praktikum, das sie am Dienstag in der Chirurgie beginnt, und aus »gleich« werden ein paar Minuten und dann noch ein paar mehr.
»Da ist er!«, ruft Jazz plötzlich. Ich drehe mich um und sehe, dass Ben auf uns zuläuft. Er winkt.
»Überraschung!«, meint Amy und grinst über das ganze Gesicht.
Gestern Abend hat Mum beim Abendessen erwähnt, dass Dad sie darauf angesprochen hat, dass Ben und ich immer allein laufen gehen. Gemeinsam hätten sie dann beschlossen, dass wir das zukünftig nicht mehr tun dürften. Ich habe mich nicht dagegen gewehrt. Warum auch? Jeder Streit, den ich anfangen würde, wäre für sie nur eine Bestätigung, dass zwischen uns etwas läuft, das sich für 16-jährige, frisch entlassene Slater nicht gehört.
»Wissen Mum und Dad, dass er mitkommt?«, frage ich, bevor Ben bei uns ist.
»Nein. Willst du die Strecke laufen? Geht doch schon mal voraus, wir kommen nach.«
»Danke.« Ich umarme Amy. Sie sieht überrascht aus, doch dann drückt sie mich ebenfalls.
»Ich weiß, wie sich das anfühlt.« Sie denkt anscheinend, dass Ben und ich, sobald wir außer Sichtweite sind, genau das Gleiche machen wie sie und Jazz. Aber heute will ich –
muss ich
– laufen.
Ben und ich joggen den Fußweg hinauf. »Nicht so schnell«, mahne ich ihn, obwohl mich meine Füße weiterziehen wollen, so schnell sie können. Doch ich kann nicht total verschwitzt nach Hause kommen – sonst wäre es zu offensichtlich, dass Amy und ich nicht zusammengeblieben sind.
»Warum?«, fragt er. »Normalerweise kannst du es doch kaum erwarten loszulegen.«
Ich zögere. »Ich darf nicht so aussehen, als sei ich gerannt. Ich soll eigentlich bei Amy bleiben«, erkläre ich, aber erwähne nicht, dass meine Eltern mir verboten haben, mit ihm zu laufen. Mir fällt die Entscheidung leichter, mich ihnen zu widersetzen, wenn ich sie nicht laut ausspreche.
Also joggen Ben und ich gemächlich den Weg hinauf, entlang der Hecke, der Stechpalmen und der Felder, bis wir den Baumwurzeln im Wald ausweichen müssen. Der graue Himmel scheint auf uns zu fallen, während wir immer
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