Gelöscht (German Edition)
ein Tablett mit einem Teller Suppe auf den Tisch neben mir. »Was zeichnest du?«
Ich zeige es ihr. Halb Mum, halb Drache. In verschiedenen Posen. Feuer speiend, über das Haus fliegend.
Sie lacht. »O Gott, pass bloß auf, dass sie das nicht sieht. Wir müssen die Zeichnung verstecken und …«
Sie unterbricht sich mitten im Satz und sieht mit gerunzelter Stirn auf meine Hand. Auf meine linke Hand, die den Bleistift hält. Mein Magen zieht sich vor Angst zusammen.
»Ich dachte, du bist Rechtshänderin. Als du mich gemalt hast, hast du jedenfalls die rechte Hand verwendet.«
»Bin ich auch. Ich habe eben mit der rechten Hand gezeichnet und den Stift nur gewechselt, um dir das Notizbuch zu geben.«
»Oh, sorry, natürlich«, sagt sie und lächelt wieder.
Mein Levo vibriert: 4,6.
»Schokolade?«, fragt Amy.
Ich schüttle den Kopf. »Sebastian.«
Amy tritt in den Flur und kommt nur Augenblicke später mit Sebastian zurück, den sie auf meinen Schoß fallen lässt. Er miaut, weil er beleidigt ist, dass er den ganzen Tag nicht in mein Zimmer durfte. Ich streichle ihn und er legt sich schnurrend hin. Seine Pfoten drücken durch die Decke an meine Seite, er fährt immer wieder genüsslich die Krallen ein und aus.
»Willst du jetzt vielleicht doch ein wenig essen?«, fragt Amy.
»Nachher.«
Als ich wieder auf 5 bin, geht sie nach unten, um fernzusehen. Ich kuschele mich so fest an Sebastian, dass er sich windet und protestiert, bis ich lockerer lasse.
Warum habe ich gelogen?
Ich hatte Angst. Vor Amy? Das ist verrückt. Aber die Angst war da. Sie war real. Als ob Amy auch jemand sein könnte, der mit dem Ziegelstein ausholt.
Ich halte meine linke Hand hoch, drehe sie hin und her. Die Finger sind heil und makellos, ohne Narben. Ich kann mir fast einreden, dass der Angriff aus meinem Traum nie geschehen ist, dass mein Unterbewusstsein das alles erfunden hat. Dass nur die Erkenntnis, dass ich mit der linken Hand besser zeichnen kann als mit der rechten, diese Bilder ausgelöst hat. Sie können keine Erinnerung sein. Ich bin geslated worden. Ich habe keine Erinnerungen.
Aber irgendwie sitzt eine dunkle Gewissheit wie ein Fels auf meiner Brust und drückt mich nieder, lässt mir kaum noch Luft zum Atmen. Ein Selbsterhaltungstrieb in meinem Inneren schreit laut auf und lässt sich nicht ignorieren.
Das darf niemals jemand erfahren.
»Alle mal herhören, wir haben heute jemand Neuen hier!« Die Betreuerin Penny spricht mit einer Stimme, die fast so schrill wie ihr knallgelber Pulli ist.
»Alle« sind etwa ein Dutzend Slater wie ich, die aus den umliegenden Dörfern kommen und sich in einem losen Kreis in einem zugigen Saal mit hohen Wänden versammelt haben.
Penny schiebt mich nach vorn. »Na los. Stell dich vor! Und such dir einen Platz.«
»Hi. Ich bin Kyla«, sage ich und entdecke einen Stuhl in einer Ecke, den ich in den Kreis ziehen kann.
Die anderen lächeln zuerst mich und dann sich gegenseitig an. Die meisten sind ein paar Jahre jünger als ich. Alle, außer einem Mädchen, das etwa in meinem Alter ist und mit verschränkten Armen dasitzt und aus dem Fenster in die Dunkelheit starrt.
Na großartig. Die erste Gruppensitzung. Genau das, was ich jetzt noch zusätzlich zu meinem Kopfweh brauche. Normalerweise verschwindet der Schmerz nach einem Blackout nach zwei oder drei Tagen. Mum meinte zwar, ich könnte auch erst nächste Woche mit den Sitzungen anfangen, aber ich habe beschlossen, dass ich mich gut genug fühle, um aus dem Haus zu gehen. Zumindest komme ich so endlich mal raus. Abgesehen davon hat es keinen Sinn, das Gruppengespräch hinauszuzögern: Das Treffen findet bis auf Weiteres jeden Donnerstag um 19 Uhr statt. Amy muss nicht mehr hin, also gehe ich davon aus, dass »bis auf Weiteres « gilt, bis die Betreuer überzeugt sind, dass man keine permanente Überwachung mehr nötig hat.
Im Krankenhaus hatten wir auch »Gruppe«, also weiß ich, wie so eine Sitzung abläuft. Wir sollen in einer »unterstützenden, unvoreingenommenen Atmosphäre« über unsere Gefühle sprechen. Aber irgendwie hat man dann doch immer den Eindruck, dass sie einem einfach nur sagen, was man fühlen soll.
Penny verschränkt die Arme. »Erinnert sich jemand daran, was ihr jetzt tun müsst?«
Die anderen sehen einander ratlos an und schweigen.
Aua, das tut weh. Es ist, als würde man einen Verkehrsunfall beobachten.
Es bleibt still, bis sich schließlich das älteste Mädchen vom Fenster abwendet und die Augen
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