Gelöscht (German Edition)
verdreht. »Da kann man ja genauso gut der Farbe beim Trocknen zuschauen. Stellt euch endlich vor, ehe wir alle alt und grau werden.«
Ich merke, wie meine Augen groß werden, genau wie die der anderen Gruppenmitglieder. Sie hat laut ausgesprochen, was ich nur zu denken wage. Wie traut sie sich, so etwas laut zu sagen?
Penny runzelte die Stirn. »Danke für die offenen Worte. Vielleicht willst du selbst beginnen?«
»Klar. Ich grüße dich, liebe Kyla. Ich bin Tori. Willkommen zu unserem fröhlichen Kaffeekränzchen.«
Die anderen stellen sich nacheinander mit ihren Namen vor und lächeln dazu. Keiner von ihnen scheint kapiert zu haben, dass Toris Tonfall der reinste Sarkasmus war. Niemand bis auf Penny, die Tori immer noch mit gerunzelter Stirn ansieht.
Als die Vorstellungsrunde vorbei ist, wirft Penny einen Blick auf die Uhr: zehn nach sieben. »Also, ich denke, wir sollten besser …«
In diesem Moment fliegt die Tür auf.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, ertönt eine männliche Stimme. Ich drehe mich um, als ein Stuhl über den Boden gezogen wird. Tori schiebt ihren etwas zurück, um Platz zu machen, und der Neuankömmling setzt sich neben sie.
Penny tut so, als würde sie streng dreinblicken. »Du musst lernen, pünktlich zu sein, Ben. Wie läuft das Training?«
»Gut, danke.« Er lächelt, und als Penny zurücklächelt, sehe ich es in ihren Augen: Er ist ihr Liebling. Er macht sich keinerlei Gedanken darüber, dass er zu spät ist, und sie stört sich auch nicht weiter daran. Er ist schließlich ihr Goldjunge.
Allerdings überrascht es mich nicht. Dass er geslated wurde, ist offensichtlich länger her als bei allen anderen, außer vielleicht bei Tori. Sein Lächeln ist echt und nicht verschwommen. Es ist die Art von Lächeln, die man erwidern will. Er trägt Shorts, obwohl es ein kühler Abend ist. Seine Beine sind muskulös, ein langärmeliges Shirt schmiegt sich eng an seine Rücken- und Schultermuskeln an. Seine Haut ist gebräunt, was bedeutet, dass er sich mehr draußen als in geschlossenen Räumen aufhält. Und Tori schenkt Ben ihr erstes richtiges Lächeln an diesem Abend. Es verwandelt ihr Gesicht – sie sieht plötzlich umwerfend aus.
»Hallo, bist du die Neue? Ich bin Ben«, stellt er sich vor, und mir wird klar, dass ich ihn angestarrt habe. Mein Gesicht läuft knallrot an.
»Kyla?«, fragt Penny und ich schrecke auf.
Tori verdreht die Augen. »Ja, Ben, du hast die Vorstellungsrunde verpasst. Ben, das ist Kyla. Kyla, das ist Ben.«
»Willkommen«, sagt er und lächelt mich direkt an.
»Danke«, murmle ich und schaue auf meine Schuhe.
»Sollen wir dann mal loslegen?«, fragt Penny. Sie blickt alle der Reihe nach an und bleibt bei mir hängen. »Kyla, warum bist du hier? Warum sind wir alle hier?«
Ich schaue sie ziemlich dämlich an.
Die Antwort in meinem Kopf – weil wir müssen – stimmt vielleicht, aber sie ist nicht die richtige. In der Krankenhaus-Gruppe habe ich gelernt, dass es besser ist, nicht zu ehrlich zu sein, obwohl die Gruppe ein geschützter Ort sein soll, an dem man angeblich alles sagen kann. Zu viel Ehrlichkeit hat mir mehrere Sitzungen mit Dr. Lysander eingebracht, die daraufhin wieder an meinem Gehirn herumgebastelt hat, sodass ich danach noch tagelang erschöpft und benebelt war.
Ich lächle breit und antworte nicht. Normalerweise fallen die Schwestern darauf herein, wenn sie mich noch nicht gut kennen.
»Kyla, wir sind hier, um uns gegenseitig bei unserem Übergang vom Krankenhaus in die Familien und die Gesellschaft zu unterstützen «, sagt Penny schließlich und beantwortet damit ihre eigene Frage. »Also, warum warst du im Krankenhaus?« Sie lächelt freundlich.
Das ist schon interessanter. Ich meine, ich weiß ungefähr, was sie mit mir gemacht haben. Sie haben die Synapsen und Verbindungen in meinem Hirn zerstört, die mein Ich ausgemacht haben – meine Persönlichkeit, meine Erinnerungen. Und ich kenne die üblichen Gründe, warum man geslated wird: eine Gefahr für sich oder die Gesellschaft ist die gängigste Variante. Aber ich weiß nicht, warum genau es mit mir gemacht wurde. Steht das irgendwo in Pennys Akten?
»Nun, Kyla?«, fordert sie mich auf.
»Sagen Sie es mir.«
Tori sieht hoch und fängt meinen Blick auf. Interesse und Belustigung spiegeln sich in ihren Augen.
Penny runzelt wieder die Stirn. Ich war schon bei genügend solcher Sitzungen, um zu wissen, dass ich keine echte Antwort erhalten werde. Doch ehe sie reagieren kann,
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