Gelöscht (German Edition)
Doch obwohl auch ich ein Slater bin, verhalte ich mich nicht so.
Kyla ist anders.
»Du hast recht, Kyla«, sagt Ben jetzt. Er nimmt mich wieder fest in die Arme und küsst mich auf die Wange. Ich wünsche mir, dass er mich richtig küsst, aber vielleicht ist das auch etwas, zu dem nur ich ihn gebracht habe …
»Komm, wir müssen zur Gruppe«, sage ich.
Als wir zurück zur Straße laufen, frage ich Ben, was er von Hattens Behauptung hält, ich sei eine biologische Anomalie. Aber Ben scheint nicht darüber sprechen zu wollen und wechselt schnell das Thema.
Wir joggen den Rest des Weges, doch mir dreht sich dabei der Kopf. Ich habe mich in Bens Nähe immer sicher gefühlt, aber jetzt merke ich, dass ich falschlag.
Ich
muss ihn beschützen und auf uns beide aufpassen.
Warum kann ich über Dinge anders nachdenken als Ben? Ich verstehe das einfach nicht.
Mum hat schlechte Laune. Sie fährt konzentriert und klammert sich so fest ans Lenkrad, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Aber der Verkehr schleicht weiter dahin. Die Straße hat eine leichte Steigung, und als wir am höchsten Punkt sind, können wir eine endlose Autoschlange sehen, die zum Krankenhaus führt. Uns wurde gestern mitgeteilt, dass wir heute einen anderen Eingang benutzen müssen, und ich überlege, ob der alte von der Bombe beschädigt wurde. Bald erreichen wir die Warteschlange und reihen uns ein.
»Ist alles in Ordnung?«, frage ich.
Mum schreckt auf und lächelt kurz. »Sollte nicht ich dich das fragen?«
»Ich habe meine Frage zuerst gestellt.«
»Na gut. Ich bin nur etwas angespannt, weil wir nach dem Anschlag letzte Woche wieder ins Krankenhaus müssen. Du etwa nicht?«
Seltsamerweise macht es mir nichts aus. Zumindest habe ich keine Angst wie Mum. Zweifellos werden die Lorder alles so gut abgesichert haben, dass Terroristen nicht die geringste Chance haben, sich dem Krankenhaus auch nur einen Zentimeter zu nähern. Aber Mum sieht aus, als wollte sie am liebsten umdrehen und so schnell wie möglich das Weite suchen.
»Nach letzter Woche werden sie wohl kaum zulassen, dass so etwas noch einmal passiert. Das Krankenhaus ist im Moment wahrscheinlich der sicherste Ort weit und breit.«
Mum überlegt einen Moment. »Bestimmt hast du recht. Ich will trotzdem nicht in die Klinik.«
Ich auch nicht, aber aus anderen Gründen. Ich bin mir nicht sicher, ob mein Pokerface heute schon Dr. Lysander standhalten kann. Es ist eine Sache, sich vorzunehmen, brav alles das zu tun, was von einem erwartet wird – eine andere, das dann auch durchzuziehen.
»Verstehe ich. Lass uns umkehren und wir holen uns irgendwo was zu essen«, schlage ich vor.
Mum lacht. »Gute Idee. Wäre es nicht toll, wenn wir das tun könnten?«
»Na ja,
du
kannst das doch. Setz mich ab und mach dir einen schönen Tag. Es ist ja sicherlich kein Vergnügen, mich jeden Samstag ins Krankenhaus zu fahren.«
»Wohl wahr. Aber ich kann auch nicht einfach tun, was ich will. Siehst du die Pfähle an jeder Ecke? Wie der dort links.« Ich blicke zum Autofenster hinaus zu einer Ampel, neben der ein Pfahl steht. Oben an der Spitze ist eine kleine schwarze Box angebracht – irgendein Gerät.
Eine Kamera.
»Sie überwachen das Autokennzeichen und die Position von jedem Auto in London. Wenn ich einfach in der Stadt herumstreune, wer weiß, was dann mit mir geschieht? Aber vielleicht gelten für mich auch andere Regeln.«
»Hat das etwas mit deinem Vater zu tun?«
»Und meiner Mum. Sie war auch ziemlich wichtig.«
»Aber grundsätzlich können sich noch nicht mal Erwachsene frei bewegen?«
»Nein. Heutzutage ist das nicht mehr möglich.«
»Konnten sie es denn früher?«
»Alles hat sich sehr verändert, Kyla. Als ich so alt war wie du, konnte ich tun und lassen, was ich wollte.«
»War das vor den Terroranschlägen in den 20ern?«
Mum zuckt zusammen. »Sehe ich so alt aus? 2031 war ich 16 Jahre alt.«
»Aber dann erinnerst du dich doch sicherlich an die 20er-Jahre, oder? Als die ganzen Krawalle stattgefunden haben und sich alle aus Angst vor den Gangs im eigenen Haus verschanzt haben und es nicht mehr verlassen wollten.«
Sie lacht wieder. »Das ist eine Version der damaligen Ereignisse. Zu dieser Zeit wurden die Mobiltelefone für unter 21-Jährige verboten. Die Jugendlichen haben sie benutzt, um damit Demonstrationen zu organisieren, verstehst du? Aber so schlimm waren die Aufstände nicht, zumindest nicht zu Beginn. Doch das Leben
war
anders als heute: Man musste zum Beispiel
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