Geloescht
Autofenster hinaus zu einer Ampel, neben der ein Pfahl steht. Oben an der Spitze ist eine kleine schwarze Box angebracht â irgendein Gerät.
Eine Kamera.
»Sie überwachen das Autokennzeichen und die Position von jedem Auto in London. Wenn ich einfach in der Stadt herumstreune, wer weiÃ, was dann mit mir geschieht? Aber vielleicht gelten für mich auch andere Regeln.«
»Hat das etwas mit deinem Vater zu tun?«
»Und meiner Mum. Sie war auch ziemlich wichtig.«
»Aber grundsätzlich können sich noch nicht mal Erwachsene frei bewegen?«
»Nein. Heutzutage ist das nicht mehr möglich.«
»Konnten sie es denn früher?«
»Alles hat sich sehr verändert, Kyla. Als ich so alt war wie du, konnte ich tun und lassen, was ich wollte.«
»War das vor den Terroranschlägen in den 20ern?«
Mum zuckt zusammen. »Sehe ich so alt aus? 2031 war ich 16 Jahre alt.«
»Aber dann erinnerst du dich doch sicherlich an die 20er-Jahre, oder? Als die ganzen Krawalle stattgefunden haben und sich alle aus Angst vor den Gangs im eigenen Haus verschanzt haben und es nicht mehr verlassen wollten.«
Sie lacht wieder. »Das ist eine Version der damaligen Ereignisse. Zu dieser Zeit wurden die Mobiltelefone für unter 21-Jährige verboten. Die Jugendlichen haben sie benutzt, um damit Demonstrationen zu organisieren, verstehst du? Aber so schlimm waren die Aufstände nicht, zumindest nicht zu Beginn. Doch das Leben
war
anders als heute: Man musste zum Beispiel sehr vorsichtig sein, wo man nachts hinging.« Ihre Augen schweifen zu den Lordern an der Ecke. Sie sind schwarz gekleidet und tragen Maschinengewehre.
»Jetzt muss man nur noch auf
die da
aufpassen.« Sie nickt leicht in Richtung der Wachmänner und ich bin überrascht.
»Du hast gerade gesagt, dass die Demonstrationen am Anfang gar nicht so schlimm waren. Was ist später passiert?«
»Habt ihr keinen Geschichtsunterricht in der Schule? Nach dem Crash â du weiÃt schon, die Bankenkrise und der Zusammenbruch der Wirtschaft in ganz Europa â hat sich GroÃbritannien von der EU distanziert und alle Grenzen geschlossen. Von da an gab es eine Phase, in der alle ziemlich durchdrehten.«
»Ich habe Filme über die Krawalle gesehen.«
»Es werden immer nur die allerschlimmsten gezeigt. Zu Beginn waren die meisten Studentenproteste friedlich, aber die Frustration und die Wut über die Regierung wuchsen.«
Im Geschichtsunterricht zeigen sie immer nur einen unkontrollierbaren und durchgedrehten Mob: Teenager, die mit wildem Blick Läden verwüsten und unschuldige Menschen umbringen. Ich bin völlig erstaunt, dass Mum so offen mit mir spricht, und ich unterbreche sie nicht. Vielleicht will sie sich von dem bevorstehenden Besuch im Krankenhaus ablenken und redet deshalb so viel.
»Ich habe mich immer die Treppe hinuntergeschlichen und meine Eltern belauscht, als sie sich abends über die politische Situation gestritten haben.«
»Aber dein Dad war doch Premierminister. Also hat er den Streit gewonnen.«
»Nein, denn anfangs war er nur einer unter vielen Kandidaten bei einer Wahl. Meine Mum war damals schon eine erfolgreiche Anwältin, die sich für Bürgerrechte eingesetzt hat.«
»Was sind Bürgerrechte?«
Mum schüttelt den Kopf. »Dass du diese Frage überhaupt stellen musst ⦠Was denkst du denn, was es bedeutet?«
»So was wie die Freiheit von Menschen?«
Sie nickt. »Genau. Meine Mutter hat sich mit Redefreiheit, Handlungsfreiheit und Versammlungsfreiheit beschäftigt. Sie hatte also ganz andere Vorstellungen davon als mein Vater, wie die Probleme gelöst werden sollten. SchlieÃlich hat sie für eine neue politische Partei Wahlkampf geführt, für die Freedom UK.«
»Also standen deine Eltern auf unterschiedlichen Seiten?«
»Ja.«
»Aber dein Dad hat gewonnen.«
»Nicht wirklich. Es gab kein eindeutiges Ergebnis. Die beiden Parteien mussten eine Koalition bilden, obwohl Dads Partei mehr Stimmen bekommen hatte. Du kannst dir nicht vorstellen, wie unser Frühstück am Morgen nach dem Wahlergebnis ablief. Letztendlich hat keiner von beiden gewonnen, Kyla. Sie gingen einen Kompromiss ein. Und so haben wir dich bekommen.«
»Das verstehe ich nicht.«
Mum dreht das Radio etwas lauter, sieht mich an und sagt mit leiser Stimme: »Du musst Geheimnisse für dich behalten
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