Geloescht
pro Woche in der Aula zusammenkommen: Jahrgang 11 ist freitagnachmittags dran, also ist das heute meine erste Versammlung. Mein Platz ist am Rand unserer Reihe, und Phoebe ist weit genug weg von mir, dass ich sie ignorieren kann. Neben meiner Sitznachbarin Julie saà ich schon gestern in Englisch. Sie war zwar nicht wahnsinnig freundlich, aber eigentlich okay. Jedenfalls hat sie mir gezeigt, wo wir bei Romeo und Julia stehen geblieben waren, und mir ein paar Sachen erklärt.
Alle gehen langsam an ihre Plätze, und ein dröhnendes Stimmengewirr erfüllt den Raum, verstummt aber abrupt, als die Vordertür aufgeht.
»Das ist der Direktor: Mr Rickson«, zischt mir Julie ins Ohr.
Er trägt einen blauen Anzug, der am Bauch nicht ganz zugeht, und steht sehr gerade, um es zu kompensieren. Sein Blick wandert kalt durch den Raum und bleibt immer wieder an einzelnen Schülern hängen, als wollte er sagen:
Ich behalte euch alle im Auge.
Trotzdem bin ich mir nicht ganz sicher, ob alle
seinetwegen
so still und stocksteif dasitzen oder wegen der beiden Männer und der Frau, die hinter ihm den Raum betreten.
Ihre Gesichter geben nichts preis und sie tragen alle graue Jacken und Hosen.
»Lorder«, sagt Julie im leisesten Flüsterton, so zaghaft, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich das Wort höre oder es mir einbilde.
Es sind dieselben Wachleute, die wir bei der Landwirtschaftsausstellung gesehen haben und die allein durch ihre Anwesenheit die Menge zum Schweigen gebracht haben â genau wie jetzt. Und genau wie an diesem Tag verkrampft sich mein Magen zu einem kalten Knoten der Furcht.
Wer oder was sind Lorder? Irgendwie weià ich es, aber gleichzeitig auch nicht. Und dann fällt mir mein Traum wieder ein. Der explodierende Schulbus, überall tote Schüler und das Schild an dem Gebäude neben dem Bus:
London Lorder Office
. Aber wenn es nur ein Traum war, etwas, das mein Unterbewusstsein erfunden hat, nachdem ich das Mahnmal gesehen habe â was haben dann die
Lorder
dort zu suchen, wenn ich zu dem Zeitpunkt noch gar nicht wusste, dass sie existieren? Vielleicht war es also doch nicht nur ein Traum. Vielleicht waren Lorder das wahre Ziel der Bombe, die den Schulbus zerstört und die Schüler getötet hat. Aber wenn es kein Traum war ⦠Warum war ich dann dort? Vor sechs Jahren war ich erst zehn. Das Ganze ergibt einfach keinen Sinn.
Die Lorder stellen sich an die Seite der Bühne und haben keine eigentliche Funktion: Aber sie hören und sehen alles.
Rickson spricht zur Versammlung, und ich zwinge mich, meinen Blick von den drei Gestalten abzuwenden, um mich auf ihn zu konzentrieren. Ich gebe mir alle Mühe, ihm zumindest mit einem Teil meines Hirns zuzuhören, während der Rest immer noch vom Schock wie gelähmt ist. Mr Rickson spricht über die akademischen und sportlichen Leistungen der Schüler. Er erwähnt, dass das Geländelauftraining am Sonntag weitergeht, und er hofft, dass viele von uns teilnehmen werden. Dann nennt er die Namen der Schüler, die sich im letzten Jahr für das Landesfinale qualifiziert haben. Probetrainings für die Teams werden nächsten Monat abgehalten. Zum Abschluss lässt er uns mit besorgter Stimme wissen, dass manche Schüler noch immer nicht ihr Potenzial ausschöpfen und dass wir uns alle mehr anstrengen sollen.
Julie stupst mich an, damit ich mich mit allen anderen erhebe. Wir gehen langsam an den Lordern vorbei und verlassen die Aula. Ich kann kaum atmen, schaffe es aber irgendwie, einen Fuà vor den anderen zu setzen und meinen Blick gerade nach vorn zu richten. Die ganze Zeit über rechne ich damit, dass sich eine kalte Hand ausstreckt und mich an der Schulter berührt.
Am Ausgang halten die Lorder ein paar Schüler auf und nehmen sie beiseite. Den Jugendlichen weicht jegliche Farbe aus dem Gesicht, aber alle anderen meiden augenblicklich ihren Blick.
Vielleicht haben sie ihr Potenzial nicht ausgeschöpft.
Vielleicht hat Tori das auch nicht getan.
Er verteilt weiÃes Zeug â Zement? â mit einem Metallteil, das aussieht wie ein Tortenheber, auf der obersten Reihe und legt dann einen Ziegelstein nach dem anderen darauf. Er wischt den Zement ab, der zwischen den Ziegeln hervorquillt, und streicht ihn glatt. Dann beginnt er mit der nächsten Reihe.
Ich starre ihn an. Er sieht ein paarmal hoch, arbeitet aber weiter und mauert langsam in die Höhe.
Ich weiÃ, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher