Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
ließen den Schuppenpanzer, der ihre Oberschenkel bedeckte, erzittern. Der heulende Sturm sorgte dafür, dass der Panzer über
ihrer Brust und ihren Schultern blitzartig eiskalt wurde. Der Umhang aus Polarfuchspelz flatterte hinter ihr im Wind.
Sie holte tief Atem und spürte, wie ihr Blut in der Kälte gefror. Der Gedanke an ihre Cousins brachte sie zum Kochen, doch heute Nacht konnte sie sich den Luxus blinder Raserei nicht leisten.
Sealiah schritt zu einem Felsvorsprung. Ein schwaches, rotes Leuchten drang dahinter hervor; dann sah sie Leute.
Sie überprüfte ihre Klingen, Exarp und Omebb, um sicherzugehen, dass sie nicht in ihren Scheiden festgefroren waren.
Die Wachen trugen Kalaschnikow-Maschinengewehre. Sie zielten auf sie, als sie herankam, senkten die Waffen aber, als sie sahen, dass Sealiah trotz der Temperaturen unter dem Gefrierpunkt nur ausgewählte Metallstücke trug.
Sie verneigten sich tief vor ihr.
Auf dem Eis war Blut verspritzt. Anscheinend hatte sich einer von ihnen nicht tief genug vor einem ihrer Verwandten verbeugt.
Ein Dutzend Schneekettenfahrzeuge hielt in der Nähe; die Motoren liefen im Leerlauf. Die Neuigkeiten über die Post-Kinder mussten sich verbreitet haben, wenn es so viele an diesen abgelegenen Ort gezogen hatte.
Vielleicht war Beal doch kein solcher Narr, wie sie angenommen hatte. Den Aufsichtsrat hier zusammenzurufen beschränkte die Anzahl der Familienmitglieder, die teilnahmen, und gab ihm so die Chance, die Kontrolle zu behalten. Oder war »Kontrolle« das Letzte, woran er dachte?
Sie näherte sich den Statuen, die den unterirdischen Eingang flankierten. Es waren undeutliche Schemen aus schwarzem Stein, doch man konnte in ihren Händen noch immer die eingemeißelten Schwerter mit den kantigen Spitzen sehen.
Sealiah biss sich in den Daumen und schmierte Blut auf beide Schwerter. Nicht einmal sie wagte es, diesen Ort ohne die nötige Respektsbezeugung zu betreten.
Sie stieg die Wendeltreppe hinab.
Warme Luft rauschte an ihr vorbei und schmolz das Eis, das an ihr haftete. Sie roch heißes Eisen und Schwefel.
Der Gang mündete in eine große Höhle. Zu ihrer Rechten funkelte die gefrorene Wand bernsteinfarben. Stalaktiten aus Eis hingen dreißig Meter über ihrem Kopf. Der Boden war mit sechseckigen Basaltplatten gefliest. Nach einem Dutzend Schritten neigte sich dieser Boden und ging in einem See aus geschmolzenem Gestein unter. Säulen ragten aus dem kochenden See auf. Einst waren Gesichter von heldenhaften Ausmaßen in sie gemeißelt gewesen. Götter, bevor es überhaupt ein Wort für »Gott« oder eine Menschheit, die sie anbeten konnte, gegeben hatte. 32
Was hätte Sealiah darum gegeben, diese Uralten zu umschmeicheln, bis sie ihr ihre Geheimnisse zuflüsterten? Doch leider hatte die Zeit selbst sie eingeholt und schließlich überholt.
Ein schmaler Steinkeil ragte gefährlich über den geschmolzenen See. Darauf stand ein Basaltklotz, der als Tisch diente.
Die meisten Aufsichtsratsmitglieder waren schon eingetroffen und standen an ihren Plätzen.
Abby trug Rosa zu diesem Anlass, ein dünnes Seidenband, das um ihre schlanke Gestalt geschlungen war. Sie stand am äußersten rechten Ende des Tisches, einen Schritt vom Abgrund entfernt – als fordere sie jemanden heraus, sie hineinzustoßen. Ein rot-schwarzer Hundertfüßer schlang sich um ihren blassen Arm und fraß ihr etwas Blutiges aus der Hand.
Lev stand gegenüber von ihr in demselben Jogginganzug, den er das letzte Mal getragen hatte. Die Bezeichnung Sweatshirt war in dem Fall passend, denn die Kleidung war von seinem Schweiß durchtränkt. Sein korpulenter Brustkorb hob und senkte sich; er keuchte in der Hitze. Mit einem Medaillon von Radkappengröße, das er um den Hals trug, fächelte er sich Luft zu.
Ashmed stand neben Abby, beinahe am Tischende. Er trug
einen maßgeschneiderten grauen Anzug und eine silberne Krawatte, die im flüssigen Licht glühte. Er nickte Sealiah zu, ein kleine Bekundung von Respekt, vielleicht auch Interesse, bei der sie ein unerwarteter Schauer durchlief.
Wie wünschte sie sich, dass es nicht dieses ganze politische Drumherum zwischen ihr und ihrem Cousin gegeben hätte! Wie wäre es gewesen, ihm ohne den Beigeschmack von Verdacht, Intrigen und Gefahr zu begegnen? Unvorstellbar; denn dieser Beiklang war ihnen allen vertrauterer Untergrund als die DNA in ihren Zellen. Selbst solche Gedanken waren gefährlich, da sie erkannt und ausgenutzt werden konnten … was die
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