Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
vorstellen, was für eine Bisskraft nötig war, um das zu schaffen.
Sie schob sich näher heran.
Das Auge des Krokodils folgte ihr.
Um das Metall herauszuziehen, würde sie beide Hände brauchen; sie würde ihr Gewehr ablegen müssen. So nahe, wie sie jetzt war, würde sie aber sicher nie einen besseren Schuss auf das Tier abgeben können. Sie konnte auf das Auge zielen. Aus nächster Nähe würde der Schuss sicher durch die Augenhöhle in den Schädel dringen, das Gehirn zu Mus machen. Das Krokodil töten.
Das war doch ihre Aufgabe, oder?
Aber warum? Dieses Wesen war lebendig und intelligent. Ja, es tötete, aber nur, um zu fressen, nicht, weil jemand ihm gesagt hatte, dass es das tun sollte, um irgendeine dumme, willkürliche Prüfung zu bestehen.
Es in Notwehr zu erschießen wäre etwas anderes gewesen. Fiona wollte beinahe, dass es sich umdrehte und sprang.
Großmutter hätte es erschossen. Sie hätte es schon längst getan und keine Zeit damit verschwendet, darüber nachzudenken.
Also fällte Fiona eine Entscheidung. Sie beschloss, dass sie ohne einen zwingenden Grund kein Leben vernichten würde.
Sie legte das Gewehr ab.
Ihr Puls hämmerte so heftig, dass sie Eliots Musik nicht mehr hörte. Ihr Gesichtsfeld verengte sich auf den Metallsplitter, die Schulter des Tiers, das schwarze Blut, das hervorquoll.
Die einzige Möglichkeit, den Metallsplitter herauszubekommen, bestand darin, ihn herauszuziehen oder geradewegs durchzustoßen.
Fiona griff danach, hielt aber inne, als sie die gezackten Ränder sah. Sie musste sich jetzt sehr geschickt anstellen, oder sie würde sich selbst in Fetzen schneiden.
Und wie friedlich würde das Krokodil bleiben, wenn es ihr Blut roch?
Sie hob zwei Oberschenkelknochen auf und setzte sie in zwei Zahnabdrücke im Metall. Sie passten gut.
Das Krokodil verlagerte sein Gewicht, als sie das tat.
Fiona erstarrte. Es war zu spät, nach dem Gewehr zu greifen. Wenn es wollte, konnte es sich umdrehen und sie entzweibeißen, bevor sie reagieren konnte.
Das Krokodil kam zur Ruhe.
Fiona holte tief Luft. Sie zählte: Eins, zwei drei! Mit aller Kraft zog sie nach oben.
Der Metalldorn leistete Widerstand – und löste sich dann. Metall schrammte über Sehnen und Knochen und schoss mit einem saugenden Geräusch aus dem Fleisch heraus. Blut spritzte.
Das Krokodil brüllte und wirbelte herum.
Sein Schwanz schlug ihr die Beine unter dem Körper weg, und mit einer krallenbewehrten Klaue wurde sie auf dem Boden festgenagelt.
Direkt über ihr war der Tod: Aufgerissene Kiefer mit hundert Zähnen, und dahinter eine so tiefe Schwärze, dass Fiona wusste, sie erstreckte sich bis ins Unendliche.
Sie konnte nichts tun, als in diese Leere zu starren. Jeder Gedanke gefror in ihrem Gehirn. Zu Stein erstarrt.
Dunkelheit wallte um sie herum auf. Kälte durchdrang ihre Seele. Sie fühlte sich, als würde sie fallen.
»Fiona!«, schrie Eliot. In der Ferne klatschte etwas ins Wasser.
Sie hoffte, dass er nicht idiotisch genug war, irgendetwas zu unternehmen. Er hatte kein Gewehr. Und sie bezweifelte stark, dass ein Wiegenlied ein mittlerweile erzürntes, zwei Tonnen schweres Reptil beruhigen würde. Was dachte Eliot sich bloß?
Wenigstens brachte das Nachdenken darüber, wie dumm ihr Bruder war, ihr Gehirn wieder zum Arbeiten.
Sie konnte mit dieser Last auf dem Brustkorb kaum atmen, aber sie sah das Gewehr auf dem Boden neben sich. Es lag genau außer Reichweite.
Wenn sie sich strecken könnte, nur ein bisschen, würde sie vielleicht danach greifen können – direkt nach oben ins geöffnete Maul des Krokodils schießen können, wie Robert es ihr geraten hatte.
Aber irgendetwas stimmte nicht.
Warum fraß das Krokodil sie nicht? Krokodile waren nicht gerade bekannt dafür, dass sie sich Zeit ließen, um die Qualität ihrer Mahlzeit zu prüfen, bevor sie sie herunterschlangen.
Prüfte es sie tatsächlich? Wartete es, ob sie nach dem Gewehr greifen und ihm so einen Grund geben würde, sie zu töten? Nicht, dass es einen gebraucht hätte. Und dennoch … es hatte keinen Muskel gerührt, nachdem es sie umgeworfen hatte.
Auch Fiona wartete.
Die einzige spürbare Bewegung ging von Fionas Herz aus: ein Trommelwirbel schnell wie Maschinengewehrfeuer in ihrer Brust.
Der Druck ließ nach, und das Krokodil trat von ihr herunter. Es schloss sein gewaltiges, schwarzes Loch von einem Maul.
Fiona blinzelte. Licht und Wärme schienen zurück in die Welt zu strömen. Sie setzte sich langsam
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