Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
rollte durch die Dunkelheit, hallte mehrfach wider und schallte zu ihm zurück. Eliot spürte Raum und Zeit und die gewaltigen, leeren Korridore des Schicksals, die von dort aus, wo er im Mittelpunkt saß, in alle Richtungen ausgingen.
Er reihte mehrere Töne aneinander, glatt und mühelos. Es war das erste Lied, das er gelernt hatte, das Kinderlied »Irdische Verstrickung«.
In seiner Phantasie sang ein Chor von Kindern mit:
Um den Baum im Ringelrei’n,
Goldgier lässt dich altern bald,
Hände faltig, Herz wird Stein,
Staub zu Staub und Asche kalt.
Eliots Hände bewegten sich schneller, griffen Akkorde, improvisiert und zu ganzen Gefügen zusammengesetzt. Die Musik vibrierte durch ihn und die hölzerne Bühne hindurch und hinaus zum Publikum.
Er öffnete die Augen und schaute auf.
Der Barkeeper verharrte reglos am Rande der Bühne. Der Mund stand ihm offen. Alle Gäste musterten Eliot verzückt.
Julie starrte ihn aus großen Augen an.
Er fügte eine Phrase hinzu, als er an sie dachte. Die Töne wurden leichter und klangen wie ihr singender Südstaatenakzent. Das Sonnenlicht, das durch die Oberlichter fiel, tönte sich rosafarben und wurde wärmer.
Eliot sah Julie in die Augen.
Ihr ganzes Wesen öffnete sich, und er las sie so mühelos, wie er die Musiknoten in der Mythica Improba gelesen hatte. Sie war honigsüß und perfekt, aber das war nur die oberste Schicht. Darunter lag mehr: Dunkelheit, Kummer und Schmerz.
Er wechselte in eine Molltonart und fand neue Teilstücke in Julie, die aus ihrem Herzen strömten, ein Gegenstück zu dem Kinderlied, und angstvolle Akkorde so tief auf der Tonskala der Gitarre, dass man sie eher spürte als hörte.
Julies Lied sehnte sich nach Erlösung vom Schmerz, und die Töne wurden schwächer und gingen ineinander über. Eliot spürte Nadelstiche auf seinem Arm, widerstand aber dem Drang, sich zu kratzen. Er spielte weiter, folgte der Spirale aus Tragödien und Reue in die Schatten, bis die Musik in einem pulsierenden Herzschlag endete … Töne, die schwächer wurden bis ins Nichts. Der Klang eines jungen, starken Herzens, das brach.
Schatten huschten über die Oberlichter, und etwas klopfte aufs Dach.
Niemand bemerkte das Geräusch oben. Alle Augen im Publikum
glänzten, und niemand rührte sich. Julie liefen Tränen über die Wangen.
Aber ihr Lied konnte nicht so enden. Es war fast, als wäre sie gestorben.
Eliot würde das nicht zulassen.
Er schuf und kontrollierte die Musik – nicht umgekehrt.
Seine Finger kehrten um und ließen den Herzschlag zurückkehren, zuerst nur schwach, dann stärker, und überbrückten die Molltonarten mit einem komplexen Harmoniegefüge, das ihm beinahe einen Krampf in der Hand bescherte, bis hin zu der Süße, dem Licht und dem unschuldigen Glück, wo sie begonnen hatte.
Julie blinzelte und wischte sich die Tränen ab. Sie lächelte. Es war nicht das Hundert-Watt-Grinsen, das sie auf Kommando anschalten konnte. Das hier war echt. Kein falscher Glanz, sondern schlichte Freude. Und sie war nur für Eliot.
Er beendete das Lied mit einem Tusch, der das Kinderlied wieder aufnahm und nach … Hoffnung klang.
Das Sonnenlicht, das durch die Oberlichter drang, wurde heller.
Eliot legte die Hand über die Stahlsaiten, um ihr hartnäckiges Vibrieren zum Stillstand zu bringen.
Die Welt wurde wieder normal.
Die Gäste klatschten, stampften mit den Füßen und standen dann auf, um ihn mit Standing Ovations zu feiern. 39
Eliot hatte noch nie Beifall für etwas erhalten, das er getan hatte. Es war fast besser, als Musik zu machen. Fast.
Er hätte den ganzen Tag hier oben bleiben können, um sie zu unterhalten, nur, damit sie ihn mit ihrem Lob überschütteten.
Doch Julie gehörte nicht zu den Leuten, die klatschten. Sie stand auf und starrte ihn durchdringend an; sie sah fasziniert und zugleich irgendwie entsetzt aus.
Sie winkte ihn heran.
Da begriff Eliot, dass es Wichtigeres gab als die Lobhudelei Fremder.
Er stellte die Gitarre auf ihren Ständer.
Der Barkeeper klopfte ihm auf die Schulter und sagte zu ihm, dass er jederzeit wiederkommen und spielen könnte.
Eliot murmelte Dankesworte und ging zu Julie.
Sie umarmte ihn und hielt ihn sehr fest; ihre Tränen netzten seine Schulter. Sie schniefte und wischte sich das Gesicht an seinem Hemd ab. Dann trat sie zurück, so dass sie ihn ansehen konnte.
Einen Moment lang wirkte sie wie ein kleines Mädchen. Sie sah so verzweifelt dankbar aus, als hätte ihr in ihrem ganzen Leben noch
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