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Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils

Titel: Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Nylund
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lesen konnte. Es war, als ob er und Fiona mit einer Betriebsanleitung geliefert worden wären.
    »Und dann sind da noch meine Tanten und Onkel.« Was konnte er Julie über sie erzählen? Er war sich ja selbst nicht ganz sicher, was sie waren. »Sie sind überlebensgroß, aber nicht im Guten. Ich habe beinahe das Gefühl, dass Fiona und ich immer von irgendjemandem in der Familie herumgeschubst werden.«
    Julie sah beiseite und blinzelte rasch. Ohne ihm in die Augen
zu sehen, zog sie sich das T-Shirt über die Schulter. Drei fingerlange blaue Flecken verunzierten ihre blasse Haut.
    »Das ist von meiner Stiefmutter«, sagte sie so leise zu ihm, dass er sie kaum hörte. »Ich bin nicht die Einzige, die etwas abbekommt. Ich hatte drei Brüder. Einen von ihnen hat sie die Treppe hinuntergestoßen.«
    Sie sagte eine Weile nichts mehr; ihr Mund zitterte. Tapfer versuchte sie, die Tränen zurückzuhalten, aber sie kullerten ihr doch über die Wangen. »Die Polizei hat ihr geglaubt, als sie gesagt hat, er wäre gefallen.«
    Eliot legte ihr sachte die Hand auf den Rücken. Man musste nicht mit Göttern und Teufeln zu tun haben, um ein völlig verkorkstes Leben zu führen. Alles, was nötig war, war eine böse Person.
    Julie wandte sich ihm zu, und er schlang die Arme um sie. Sie weinte an seiner Brust.
    Eliot wünschte, er hätte gewusst, was er sagen konnte, damit sie sich besser fühlte. Oder war das hier etwas, das noch nicht einmal die richtigen Worte in Ordnung bringen konnten?
    »He, wie wär’s, wenn ich dir ein bisschen Musik vorspiele?«
    Sie setzte sich auf, nickte und wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab. »Das wäre wunderbar.«
    Eliot zog Frau Morgenröte und den Bogen hervor und strich versuchsweise mit dem Daumen über die Saiten. Mikroskopisch kleine Vibrationen durchliefen die Geige.
    Ein Teil seines Verstands flüsterte ihm zu, dass das hier genau das war, was Julie von Anfang an gewollt hatte – dass alles nur ein Trick gewesen war, um ihn zum Spielen zu bringen.
    Wie konnte er das nur denken? Julie hatte echte Probleme. Ein nettes Mädchen wie sie würde ihn nie manipulieren, um etwas derart Nebensächliches zu bekommen. Eliot errötete; er schämte sich für seinen Verdacht. Der Umgang mit dem Rat machte ihn paranoid.
    Er setzte die Geige unters Kinn und hob den Bogen. Dann begann er mit dem vertrauten Kinderlied »Irdische Verstrickung«.

    Doch die Tonart verschob sich unter seinen Fingern in etwas Dunkles. Die Schatten, die der Eukalyptusbaum warf, wurden tiefer, und Eliot fand sich in einem winzigen Kreis aus mattem Licht wieder.
    Nur Julie war noch da und kniete neben ihm.
    Das war nicht, was er wollte. Er versuchte, etwas Leichtes und Fröhliches zu spielen, um sie aufzuheitern.
    Er sah in ihr tränenüberströmtes Gesicht. Von dort kam diese Dunkelheit. Es war, als ob seine Musik, wenn er in ihrer Nähe war, zu einem auf ihre Seele gerichteten Vergrößerungsglas wurde.
    Die Worte, die Eliot immer zu dem Kinderlied zu hören vermeinte, erklangen:
    Längst bist du tot und begraben,
ist da noch ein Lichtlein klein?
Schmerz sollst du zur Strafe haben,
Geist verloren und allein.
    Eliot drückte kräftig mit den Fingern zu und zwang Frau Morgenröte zu spielen, was er wollte: Er führte sie wieder in eine Durtonart und zwang das Lied, sich in ein munteres Tänzchen zu verwandeln. Als er den Takt mit dem Fuß schlug, fühlte er sich plötzlich wieder lebendig.
    Die Sonne brach hinter den Wolken hervor. Wind kam auf, und tausend schmale Eukalyptusblätter flogen in die Luft und tanzten im Takt zu dem Lied um sie herum.
    Julie lachte vor Entzücken.
    Kind empfängt gerechten Lohn,
naht Licht oder Schwertspitz’ schon.
Immer ist zu kurz das Leben,
Tod kann keine Rettung geben.
    Eliot drehte sich der Magen um. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Lied: Lichte und dunkle Töne mischten sich auf eine Weise, wie er es gar nicht wollte. Obwohl die Sonne hervorgebrochen
war, hätte er schwören können, dass er jetzt auch Sterne am Himmel sah.
    Der Boden grollte. Eine tiefere Macht regte sich und versuchte, ihn zu begleiten, ein Grollen, das zu tief lag, um gespürt zu werden. Und dennoch rief es die instinktive Reaktion hervor, davonlaufen und sich verstecken zu wollen. 54
    Eliot beendete den Tanz mit einem raschen Lauf.
    Julie klatschte in die Hände und rief: »Wunderbar!«
    Die Sterne am Himmel verblassten. Die Erde kam zur Ruhe. Die Blätter senkten sich, und der Wind legte sich. Eliot atmete aus.

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