Gemini - Der goldene Apfel - Nylund, E: Gemini - Der goldene Apfel - Mortal Coils
zu tun, was er wollte.
»Kein Problem. Kann ich machen.«
Er glitt in seinen Tagtraummodus und stellte sich vor, wie er sich seine Kleider zum Wechseln aus dem Spind bei Ringo’s holen, Julie am Busbahnhof treffen und alles hinter sich zurücklassen würde. Binnen weniger Stunden würden sie in Los Angeles sein, zwei Leute unter Millionen. Onkel Henry würde sie niemals finden.
Julie trank ihren Wein aus und rückte näher. »Pssst. Was habe ich dir gesagt?«, flüsterte sie. »Denk nicht so viel nach.«
Sie führte ihr Gesicht nahe an seines heran.
Die Linie, welche die Wirklichkeit vom Tagtraum trennte, verschwamm, und Eliot ertappte sich dabei, wie er seine Phantasien auslebte.
Er war sich nicht sicher, was heute Abend passieren würde, wenn er sich mit Julie am Busbahnhof traf; aber er war sich hundertprozentig sicher, was er jetzt tun würde.
Er küsste sie.
54
Was abgeschnitten wurde
Fiona lag auf dem Badezimmerboden. Ihr Magen fühlte sich hart und hohl an, als wäre sie von innen ausgeschabt worden. Vielleicht war das ja auch der Fall.
Sie wälzte sich herum und öffnete die Augen. Jemand hatte Wolldecken über sie gebreitet und ihr ein Kissen unter den Kopf geschoben.
Jetzt erinnerte sie sich: Eliot hatte ihr die Sachen gestern Nacht gebracht, als sie sich geweigert hatte, sich zu bewegen. Sie war zu schwach gewesen, aufzustehen und die sechs Schritte zu ihrem Zimmer zu gehen.
Auch Cee war gekommen und hatte versucht, sie dazu zu bringen, ein paar von ihren selbstgemachten Heilmitteln zu schlucken; aber das hatte nur bewirkt, dass sie sich noch mehr hatte übergeben müssen.
Großmutter hatte kein einziges Mal nach ihr gesehen.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte Fiona sich, ob Großmutter wirklich ihre Großmutter war und nicht nur ein Vormund, den ihre echte Mutter bestellt hatte, bevor sie gestorben war. Sicher, Großmutter sah wie Fiona und die anderen Familienmitglieder aus, aber sogar Onkel Henry hatte ihnen mehr Gefühle entgegengebracht – und er würde sie vielleicht am Ende töten .
Fiona wollte, dass jemand sie im Arm hielt und tröstete. Sie wollte ihre echte Mutter bei sich haben.
Aber dieser Wunsch war eine ferne Kerzenflamme in ihrem Verstand, die flackerte, bis sie fast erlosch und vom Hurrikan der jüngsten Ereignisse gebeutelt wurde. Niemand war hier, um sich um sie zu kümmern, und daran würde sich auch nichts ändern.
Langsam stand sie auf. Ihr Körper fühlte sich an, als würde er nur noch halb so viel wie gestern wiegen.
Obwohl sie Angst vor dem hatte, was sie sehen würde, wandte sie sich dem Spiegel zu.
Ein hageres Ding von einem Mädchen starrte zurück, die Augen wild und blutunterlaufen, das Haar ein Rattennest, die Haut kalkweiß. Was erwartete sie aber auch von jemandem, der bald sterben sollte?
Sie drehte den Wasserhahn auf und schöpfte sich eine Handvoll Wasser an den Mund. Es gelang ihr, einen winzigen Schluck zu trinken. Die Handlung war mechanisch und stillte nicht ihren Durst. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, zog ihr Haar zurück und band es zu einem Knoten – potthässlich, aber so hing es ihr zumindest nicht ins Gesicht.
Dann legte sie die Hand flach auf den Magen, schloss die Augen und versuchte zu spüren, was in ihr vorging. Alles war still und ruhig. Der Anfall von Magenleiden, den sie gestern Nacht gehabt hatte, war vorbei. Sie hatte keinen Hunger,
obwohl sie tagelang kein richtiges Essen zu sich genommen hatte. Frühstück war für sie eine so abstrakte Vorstellung wie Logarithmen.
Gestern Nacht war jede einzelne Praline aus dem herzförmigen Kasten, die sie gegessen hatte, wieder zum Vorschein gekommen. Es kam ihr jetzt unmöglich vor, aber sie musste zehn oder zwölf Lagen Trüffel verschlungen haben. Und doch erschien das logisch, wenn sie sich an das reine Volumen des Breis – die ranzige, zerdrückte Schokolade und den sirupartigen Geschmack – erinnerte, den sie hervorgewürgt hatte.
Sie leckte sich die Lippen, schmeckte Kakao, und ihr Würgereflex setzte wieder ein.
Nein. Jetzt würde es ihr gut gehen. Sie würde nie mehr eine Praline essen.
Fiona kniete sich hin, hob die Decken hoch und legte sie zusammen. Sie hatte diese Wolldecken schon seit zehn Jahren, und sie waren bei hundert Handwäschen weich geworden. Sie wollte sie nicht verlieren, deshalb achtete sie darauf, sie nicht auf dem Boden liegen zu lassen. Es gab da eine Regel.
Regel 16
Keine unordentliche Ansammlung persönlicher Besitztümer. Jeder
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