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Gemischte Gefühle

Gemischte Gefühle

Titel: Gemischte Gefühle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronald M. Hahn
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B. ein leichtes Sodbrennen. Er stand auf und holte sich eine Lutschtablette aus einer Manteltasche. Als er die Tablette aus ihrer Umhüllung drückte, bemerkte er, daß seine Hände feucht vor Schweiß waren. Auch auf seiner Stirn hatte sich Schweiß gesammelt. Obwohl es ihm peinlich war, trocknete B. Gesicht und Hä n de mit seinem Taschentuch, bevor er sich wieder hinsetzte.
    Etwa jede Viertelstunde erfolgte nun ein neuer Aufruf. B. warf einen Blick auf seinen Bescheid und vergewisserte sich, daß er auch wirklic h f ür 9.30 Uhr ins Zentrum bestellt wo r den war. Seine Armbanduhr zeigte jetzt 10.15 Uhr.
    Schließlich wurde der alte Mann, der unmittelbar vor B. an der Reihe war, aufgerufen. Nun verstärkten sich B’s M a genschmerzen immer mehr.
    Inzwischen hatte sich der Raum wieder mit Neuanköm m lingen gefüllt, aber auch jetzt kam keine Unterhaltung z u stande. Man wartete schweigend, in den Käfig der eigenen Gedanken eingesperrt. B. schluckte immer wieder nervös und spürte, wie er langsam zu zittern begann.
    Diese letzte Viertelstunde verging langsamer als die g e samte Wartezeit davor. Endlich wurde auch B. aufgerufen. Er stand unsicher auf und folgte der Assistentin benommen durch einen langen Korridor in den Applikationsraum. Ein kräftig gebauter Mann erwartete ihn dort. Er war in einen weißen Kittel gekleidet und schien auf unbestimmbare We i se dem weißgekachelten Raum zugehörig zu sein; ganz so, als sei er außerhalb dieses Raumes nicht als menschliches Wesen denkbar. Der Weißgekleidete begrüßte B. knapp und bat ihn um den Bescheid. B., der den Bescheid bereits im Warteraum zur Hand genommen hatte, überreichte das Blatt wortlos dem Weißgekleideten, der daraufhin die aufg e druckten Angaben mit den Aufzeichnungen in einem auf einem Pult liegenden Kontrollbuch verglich. Besondere Sorgfalt verwandte er darauf, die Fotos auf dem Bescheid und im Kontrollbuch miteinander und mit B. zu vergleichen, um sich zu vergewissern, daß auch wirklich kein Tä u schungsversuch vorliege. B. verfolgte diese Vorbereitungen geistesabwesend; auch nahm er kaum die Einrichtung des Applikationsraumes wahr. Das Zittern seines Körpers war stärker geworden, und das Bild seiner Umgebung ve r schwamm ihm vor den Augen.
    Der Weißgekleidete forderte ihn auf, sich zu entkleiden, und B. leistete dieser Aufforderung ungeschickt Folge. Der Weißgekleidete bemerkte seine Unsicherheit und erkundigte sich in einem Anflug von menschlicher Wärme, weswegen er, B., denn den Bescheid erhalten habe. B. erwiderte, er habe ein auf dem Index aufgeführtes Buch gelesen. Der Weißgekleidete wies auf das Gestell in der Mitte des Ra u mes und fragte gleichzeitig nach dem Titel des Buches. Während B. sich auf das Gestell legte, gab er wahrheitsg e mäß an, es habe sich um einen Roman von Heinrich Böll gehandelt, der den Titel „ Die verlorene Ehre der Katharina Blum “ trage. Der Weißgekleidete entgegnete, natürlich ke n ne er diesen Roman nicht; daher könne er auch die Schwere der Verfehlung nicht beurteilen. Gleichzeitig schnallte er B. mit ledernen Riemen auf dem Gestell fest.
    Als B’s Blick auf die von roten Spritzern verschmierte Wand fiel, erinnerte er sich plötzlich wieder mit äußerster Klarheit an seinen nächtlichen Traum. Verwundert stellte er fest, daß dieser Traum ganz anders gewesen war als g e wöhnliche Träume, in denen sich ja Bruchstücke von Erle b tem und Erinnerten mit den verschiedensten Symbolen zu einem zerrspiegelartigen Bild formen. Dieser Traum jedoch war nichts anderes als eine sehr genaue Erinnerung an eine Reihe von Ereignissen gewesen, die B’s Jugend geprägt ha t ten.
    Sein Vater, so erinnerte sich B., hatte ihn oftmals zu sich in sein Arbeitszimmer befohlen, um ihn dort für von der Mutter berichtete Vergehen zu strafen. Einem genau festg e legten Ritus folgend, hatte der Knabe einen Rohrstock vom Schrank holen müssen, wobei er wegen seiner geringen Körpergröße auf den Schreibtischstuhl seines Vaters steigen mußte, und ihn sodann ohne Aufforderung seinem Vater überreichen müssen. Anschließend hatte der Vater ihn dazu aufgefordert, sein Gesäß zu entblößen und sich über den Schreibtisch zu beugen. Nach vollzogener Bestrafung, die stets dann, wenn B. Anzeichen von Widerstand hatte erke n nen lassen, beträchtlich verschärft worden war, hatte der Knabe, immer noch halb entblößt, den Stock und die Hand seines Vaters küssen und den Stock auf den Schrank zurüc k legen

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