Gemischte Gefühle
speziellen Situation im Pr o blemfeld Holunderberg verstanden hat, die Bevölkerung im hohen Maße für ihre Ziele zu mobilisieren. Ziel der weiteren O b servation ist die Vervollständigung des V-Mann-Netzes und die Eindämmung des Einflusses der BgB im nicht-radikalisierten Teil der Bevölkerung …
Sonderbericht IV-38/A, Dezernat 3, Bundesamt für Verfa s sungsschutz – Bürgerinitiativen, Sekten, K-Gruppen –, nichtautorisierte Veröffentlichung durch „ BgB-Info 6 “
Karl-Ulrich Burgdorf
Ein Tag im Ze n trum
Als B. am Dienstag den Zentrumsbescheid im Büro des A b teilungsleiters vorlegte, blickte ihn der Abteilungsleiter nur kurz an und wies ihn darauf hin, daß eine Lohnfortza h lung in der Zeit seiner voraussichtlichen Abwesenheit nicht e r folgen würde. B. erwiderte, der entsprechende Erlaß sei ihm bekannt und er sehe die innere Logik dieser Regelung natü r lich ein.
Am Nachmittag erledigte B. die ihm aufgetragenen A r beiten mit der ihm eigenen Sorgfalt, jedoch offensichtlich ohne innere Beteiligung. Den anderen Angestellten, die gleich B. in der Verwaltungsabteilung arbeiteten, fiel seine fast unnatürliche Ruhe kaum auf, da B. ohnehin als still und in sich gekehrt bekannt war.
Zur üblichen Stunde räumte B. die Unterlagen von se i nem Schreibtisch, nahm den Mantel vom Kleiderständer und setzte den Hut auf. Nachdem er seine Arbeitskarte hatte a b stempeln lassen, reihte er sich in den Menschenstrom vor dem Fabriktor ein und ließ sich zur nächsten Haltestelle der U-Bahn treiben, wo er, wie jeden Tag, einen Zug der Linie 6 bestieg. Die U-Bahn-Fahrt in die Vorstadt dauerte wie i m mer exakt vierzig Minuten. B. kaufte sich am Kiosk der St a tion eine BILD-Zeitung, die er sorgfältig zusammenfaltete und in die Manteltasche steckte, und legte das letzte Stück seines Heimwegs geistesabwesend zurück, wobei er wie immer den Weg durch den Park wählte.
Nach dem Abendessen schaltete B. den Fernsehapparat ein und sah sich die Tagesschau an. Während des darauf folgenden Fernsehspiels überkam ihn eine vorher nie g e kannte Unlustempfindung. Er wechselte das Programm, aber auch die Sendungen auf den anderen Kanälen interessierten ihn nicht. Früher als sonst ging er zu Bett. Er hatte erwartet, nicht sogleich einschlafen zu können, aber kaum hatte er das Licht gelöscht, als er auch schon in einen tiefen Schlaf ve r sank.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, versuchte er e r folglos, sich an den beklemmenden Traum zu erinnern, den er in dieser Nach t g ehabt hatte. Aber nur das unbestimmte Beklemmungsgefühl und ein verschwommenes Bild seines verstorbenen Vaters waren ihm von diesem Traum gebli e ben. In Gedanken versunken nahm er sein Frühstück zu sich.
Gegen neun verließ er das Haus und fuhr mit der U-Bahn zum Zentrum. Der Wagen war leerer als sonst, was B. nicht überraschte, denn die meisten Männer und Frauen, die in der Vorstadt lebten, fuhren bereits zwei oder sogar drei Stunden früher zur Arbeit.
Das Zentrum, B ’ s Ziel, hatte eine eigene U-Bahn-Station. Mit einem Paternoster fuhr B. hinauf in die große Vorhalle des Zentrums. Am Informationsschalter zeigte er seinen B e scheid vor, und die junge Frau hinter dem Schalter wies ihm mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit den richtigen Weg. Nach kurzer Suche fand B. den Warteraum der Buchstabe n gruppe A bis D, legte Mantel und Hut ab und ließ sich auf einer der harten Holzbänke nieder. Außer ihm warteten noch fünf weitere Männer auf ihren Aufruf. Ein Gespräch kam jedoch nicht zustande.
Im Warteraum lagen keine Illustrierten aus, so daß B. g e zwungen war, sich in Gedanken mit dem Bevorstehenden zu beschäftigen. Um sich abzulenken, ließ er seinen Blick über die farbigen Portraitfotos an den weißen Wänden schweifen, die die Bundespräsidenten und Bundeskanzler der Nac h kriegszeit zeigten. Besonders lange verweilte B ’ s Blick auf dem Foto des amtierenden Bundeskanzlers. Obwohl er ihn erst gestern in den Nachrichten gesehen hatte, betrachtete B. das Portrait dieses Mannes so gründlich, als sehe er dieses Gesicht zum ersten Mal. Nie zuvor waren ihm die schweren Tränensäcke, die schlaffe Haut an Hals und Wangen und die zahlreichen geplatzten Äderchen überall unter der Haut so deutlich aufgefallen. Hinter dem abgebildeten Gesicht war die Staatsfahne zu erkennen.
B's Magen verkrampfte sich, als der erste der Wartenden aufgerufen wurde. Als sich die schalldichte Tür hinter dem jungen Mann schloß, verspürte
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