Gemma
schwankenden Gang eines Seemanns, der
den größten Teil seines Lebens auf dem Meer verbracht hatte. Gespannt richtete
Gemma sich auf. Das konnte die Chance sein, auf die sie gewartet hatte.
Schnell rutschte sie vom Poller und hastete auf den Mann zu, der
nun mit einem Lieferanten verhandelte. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wob Gemma ihren Zickzackkurs durch die
Menschenmenge und über das glitschige Kopfsteinpflaster des Piers.
Zufrieden über das Geschäft mit dem
Gemüsehändler wandte sich Jessup Harper wieder der Dragonfly zu. Der Vorrat
an frischen Früchten und Gemüsen musste für die lange Reise über den Atlantik
bis nach Amerika reichen, weil der Captain nicht vorhatte, auf den Kanarischen
Inseln Station zu machen. Skorbut war ein gefürchteter Feind an Bord jedes
Schiffes, zusammen mit einer Vielzahl von anderen Krankheiten, denen man auf
hoher See hilflos ausgeliefert war, aber der Captain bestand darauf, immer
genügend frische Nahrungsmittel an Bord zu nehmen.
Jessup war im Begriff, an Bord
zurückzukehren, als eine schmächtige Gestalt wie eine Kanonenkugel mit ihm
kollidierte. Jessup stolperte zwei, drei Schritte zurück. Als er sein
Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war der Junge bereits in der Menschenmenge
verschwunden. Ein zweiter rannte vorbei, dem ersten hinterher. Jessup sah
lediglich eine Mütze und einen wild schwingenden Leinenbeutel, den der Junge
sich auf den Rücken gebunden hatte. Kopfschüttelnd sah Jessup ihnen nach.
Kinder. Immer in Eile. Er wollte gerade aufs Schiff gehen, als eine plötzliche
Eingebung ihn nach seiner Börse greifen ließ.
»Verdammt!«, fluchte Jessup. »Haltet den Dieb!«, brüllte er dann
und setzte zur Verfolgung an, aber die Jungen waren bereits außer Sichtweite.
Einige Seeleute und Händler sahen sich um, aber keiner von ihnen hatte den
kleinen Zwischenfall bemerkt. Wütend auf sich selbst, ging Jessup an Bord.
Gemma hatte kaum ihren Augen getraut. Kurz bevor sie den großen,
rothaarigen Seemann erreicht hatte, hatte eines der Straßenkinder ihn
angerempelt und ihm die Börse geklaut. Anscheinend hatte er es gar nicht
gemerkt, aber sie hatte es genau gesehen. Sie wusste inzwischen, wie schlimm
Hunger war, und eine wohlgefüllte Börse, wenn man sie verteidigen konnte,
füllte den Magen über Wochen oder sogar Monate.
Aber warum musste er gerade diesen Seemann beklauen? Ihre Chancen,
als Schiffsjunge angeheuert zu werden, waren gerade drastisch gesunken.
Vielleicht, wenn sie die Börse wiederbeschaffte ...
Noch immer war sie dem Täter dicht auf den Fersen. Vielleicht war
sie nicht die Stärkste auf der Straße, aber sie war schnell. Nach scheinbar
endlosen Abzweigungen und Seitenstraßen wurde der Dieb langsamer. Anscheinend
fühlte er sich sicher. Die Gegend war längst nicht mehr so belebt, wie die
Docks es gewesen waren, der ideale Ort, um die Beute allein in Augenschein zu
nehmen.
Wenn sie noch eine Chance haben wollte, auf
der Dragonfly angemustert zu werden, musste sie die Geldbörse zurückerobern.
Gemma nahm ihren Gegner in Augenschein. Der Bursche war mindestens zehn
Zentimeter größer als sie selbst und um etliches schwerer. Gemma atmete tief
durch. Außerdem hatte sie schon mit ihm zu tun gehabt. Er hieß O'Connell und
war einer von denen, die ihr damals ihr Geld gestohlen hatten. Eigentlich war
es ausgleichende Gerechtigkeit, dass sie ihm diesmal seine Beute abjagen
sollte.
Gemma schlich näher. Irgendetwas musste O'Connell alarmiert haben,
denn er drehte sich plötzlich um.
Sein kräftiger Körper entspannte sich, als er
Gemma erkannte.
»Verpiss
dich!«, schrie er, nicht sonderlich beunruhigt. »Du hast etwas, das dir nicht
gehört«, sagte Gemma, so ruhig sie konnte.
»Ach ja? Und was geht dich das an, du Ratte?«
»Gar nichts«, antwortete Gemma.
»Ganz genau.« O'Connell wandte sich ab.
»Aber ich will, dass du es zurückgibst.« Gemmas Worte hingen
zwischen ihnen in der Luft.
Ganz langsam, so als könnte er seinen Ohren nicht trauen, wandte O'Connell
sich um.
»Was war das?«
»Ich sagte: Ich will, dass du es zurückgibst.« Noch einmal atmete
Gemma tief durch. Ruhe durchströmte sie.
O'Connell machte einen drohenden Schritt auf sie zu, aber sie wich
nicht zurück.
»Du spielst mit deinem Leben, du Ratte«, zischte O'Connell und
stopfte die Geldbörse in sein Hemd. »Dich mach ich kalt. Na los, komm her!«
Mit erhobenen Fäusten tänzelte er auf Gemma zu. Ohne Vorwarnung
schoss seine Rechte vor. Obwohl sie sich
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