Gemma
Schulter,
zusätzlich mit einem Seil um die schmale Taille gesichert. Sein Haar hing
staubig und ungekämmt unter seiner Mütze hervor, und hin und wieder kratzte er
sich geistesabwesend am Kopf. Er sah erschöpft aus und tiefe Schatten lagen
unter seinen dunkelblauen Augen. Ein Auge zeigte noch immer Spuren eines Veilchens
und seine vorstehenden Wangenknochen verrieten die Tatsache, dass er in den
letzten Wochen nicht allzu viel gegessen hatte.
Ihr Aufenthalt in der großen Stadt hatte Gemma inzwischen völlig
desillusioniert. Es war sehr viel schwerer, als sie gedacht hatte, London vom
anderen Ende der sozialen Hierarchie entgegenzutreten.
Nicht, dass sie sich zuvor am oberen Ende befunden hätte, aber
nach allem, was sie bisher gesehen hatte, hatte sie sich doch zumindest im
oberen Drittel bewegt. Jetzt war sie so tief gesunken, wie man nur sinken
konnte. Es war noch sehr viel schwerer, ein heimatloses Kind auf den Straßen
von London zu sein als eine Waise im Hause ihrer lieblosen Tante. Dort
zumindest hatte sie ein Dach über dem Kopf gehabt und regelmäßige Mahlzeiten,
ein Luxus, den sie schon längst nicht mehr ihr Eigen nennen konnte. Die letzten
Nächte hatte sie unter Brücken verbracht oder in offenen Hauseingängen. Da es bereits
Ende September war, waren die Nächte zum Teil schon ziemlich kühl, trotz des
Sonnenscheins und der relativ milden Temperaturen am Tage. Sie hatte kein Geld
mehr. Was sie nicht aufgebraucht hatte, war gestohlen worden, obwohl sie ihr
Möglichstes getan hatte, ihren Besitz zu verteidigen. Das Einzige, was sie
hatte retten können, waren ihr Fernglas und Brads Messer, das sie, Brads Rat
folgend, nun um den Arm geschnallt trug.
Brad. Sie vermisste ihn so. Sie vermisste sein Lachen, seine
Unterstützung, und wenn sie ganz ehrlich mit sich war, vermisste sie am
meisten das Gefühl, als er seine Arme um sie gelegt hatte. Für einen kurzen
Augenblick hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt, genau wie an dem Morgen,
als sie in Bryce' Armen erwacht war.
Es war wahrscheinlich Brads Messer gewesen, das ihr das Leben
gerettet hatte, als sie von vier Jugendlichen überfallen worden war, die
gesehen hatten, wie sie eine Mahlzeit in einer Taverne bezahlt hatte. Obwohl
sie einen Schlag aufs Auge bekommen hatte, war es ihr gelungen, sie mit dem
Messer abzuwehren, allerdings erst, nachdem sie das Geld in ihren Taschen
gefunden hatten. Ohne Geld hatte sie keinen weiteren Wert mehr für sie gehabt,
und Gemma hatte keinen Zweifel, dass sie ihren toten Körper in die Themse geworfen
hätten, hätte sie nicht die lange, bedrohliche Klinge gezückt.
Aber mit dem Leben davonzukommen war auch das einzig Gute, das ihr
seit langem widerfahren war. Sie war bereits seit mehr als einem Monat in London und hatte bisher kein Schiff auftreiben
können, dessen Ziel Amerika gewesen wäre oder dessen Zahlmeister bereit gewesen
wäre, sie an Bord zu nehmen. Gemma seufzte. Erst vor wenigen Tagen hatten ihre
Hoffnungen sich erneut zerschlagen, als die Honeycut ohne sie die Segel
gesetzt hatte. Dennoch verbrachte sie ihre Tage am Hafen und hielt Augen und
Ohren offen, aber bisher hatte sich keine weitere Möglichkeit ergeben. Gemma
fühlte, wie ihr Magen knurrte. Sie würde bald etwas zu essen finden müssen.
Gestern auf dem Markt hatte sie ihre Scheu
überwunden und zum ersten Mal einen Laib Brot gestohlen. Ihre Freude über das
unerwartete Festmahl währte allerdings nicht lange. Ein Rudel zweibeiniger
Gossenratten hatte sie angegriffen, und sie hatte ihnen ihre Beute überlassen
müssen, aber nicht, bevor es ihr gelungen war, ein großes Stück für sich selbst
herauszureißen. Ihr Magen hatte sich bereits an die schmale Kost gewöhnt und
gab sich inzwischen mit den kleinen Portionen, die sie ihm zugestand,
zufrieden. Heute allerdings hatte sie noch nicht gewagt, ihren
Beobachtungsposten zu verlassen, aus Angst, eine gute Gelegenheit zu verpassen.
Eines der Schiffe, die sie seit Tagen beobachtete, die Dragonfly, ein
amerikanischer Klipper, schien sich bereitzumachen, in See zu stechen. Wenn sie
sich richtig an die Erzählungen ihres Vaters erinnerte, waren frische
Lebensmittel das Letzte, was an Bord gebracht wurde. Sie konnte die Logik darin
erkennen und hoffte, dass sie Recht hatte. Aber wann ging man zum Zahlmeister,
um anzuheuern?
Einer der Männer, die anscheinend das Kommando
über das Schiff hatten, schritt über den Laufsteg hinab zum Kai. Er war groß
und rothaarig und ging mit dem leicht
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