Gemma
duckte, streifte O'Connells Faust
Gemmas Wange. Schmerz durchzuckte sie, blendete sie für einen Moment, aber sie
war nicht bereit aufzugeben. Mit einem Wutgebrüll stürzte sie sich auf ihren
Widersacher. Ihre Finger verkrallten sich in seinen Haaren, sie schlug, trat
und biss. Blut spritzte ihr ins Gesicht, aber Gemma wusste nicht, ob es ihr
eigenes war oder O'Connells.
Dieser schien von ihrem Angriff so überrascht zu sein, dass er
kaum Gegenwehr leistete. Zwar landete er einige Treffer, aber es gelang ihm
nicht, diese Furie zu bezwingen. Gemma kämpfte mit der Kraft der Verzweiflung.
Sehr viel länger würde sie sich allein in London nicht mehr behaupten können.
Und was dann? Sie war hungrig und sie war müde. Sie war verzweifelt – und sie
war wütend.
Vor allem war sie wütend.
O'Connell hatte sie beklaut. Ohne ihn hätte
sie noch Geld und wäre nicht so sehr darauf angewiesen, so schnell wie möglich
ein Schiff zu finden. Es war nur fair, dass sie es ihm heimzahlte.
Und es fühlte sich verdammt gut an, endlich einmal nicht nur
einzustecken.
»Hier hast du es!«, kreischte O'Connell plötzlich und schleuderte
die Geldbörse von sich. »Lass mich bloß in Ruhe.« Er stieß Gemma von sich und rappelte sich auf. Wie durch
einen Schleier sah Gemma ihn davonlaufen. Benommen kroch sie zu der Geldbörse
hinüber und wog sie in der Hand. Sie war schwer, enthielt bestimmt genug Geld
für mehrere Monate. Damit konnte sie ...
Nein. Sie würde die Börse zurückgeben. Und als Gegenleistung
würde man sie an Bord nehmen. Das Geld zu haben, war keine Garantie, es auch zu
behalten. Zwar hatte sie dieses Mal gewonnen, aber was würde nächstes Mal sein?
Nein, sie würde das Geld dem großen Seemann zurückgeben, immerhin war es ihr
Ziel, nach Amerika zu gelangen.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sie sich. O'Connell hatte sie
doch besser getroffen, als sie gedacht hatte. Ihr Körper schmerzte und das
Pochen in ihrer Wange verriet ihr, dass sie schon wieder ein blaues Auge hatte.
Mit ein wenig Glück würde es allerdings ihr letztes sein.
Blitzschnell ließ sie die Börse unter ihrem Hemd verschwinden und
humpelte zurück zum Hafen.
»Mister Harper, da will Euch jemand sprechen, Sir!« Jessup blickte von
der Seekarte, die er studiert hatte, auf.
»Wer?«, fragte er ungeduldig. Es hatte schon genug Störungen
gegeben. Am schlimmsten war gewesen, dass er den Capt'n noch einmal um das Geld
für den Gemüsehändler hatte bitten müssen. Er war nicht sehr erfreut gewesen.
»So'n rotznasiger Bengel, Sir!«
Jessup krauste die Stirn. Ein Kind? Was wollte denn das von ihm?
Jessup ging den Laufsteg hinab. Auf dem Kai wartete ein
schmächtiges Kerlchen. Jessup zögerte. Irgendetwas an ihm kam ihm bekannt vor.
Es dauerte einen Moment, bevor es ihm einfiel.
»Du«, brüllte er und streckte die Hand nach dem Jungen aus, um ihn
festzuhalten. Der Knabe ging einige Schritte zurück, machte aber keine
Anstalten wegzulaufen.
»Du kleiner Dieb! Wagst dich auch noch
hierher zurück!«
Der Junge richtete sich empört auf. »Ich bin kein Dieb«,
widersprach er mit schriller, sich überschlagender Stimme.
Eine Menschenmenge sammelte sich um die beiden Kontrahenten,
begierig zu sehen, was die Aufregung zu bedeuten hatte.
»Du hast mich doch zusammen mit dem anderen Langfinger
beklaut.«
»Das habe ich nicht!« Das lief nicht so, wie Gemma es sich
vorgestellt hatte. Ganz und gar nicht.
»Und warum bist du dann abgehauen?«, fragte
Jessup wütend.
»Ich bin nicht abgehauen. Ich habe den Dieb verfolgt, um Euch das
hier« – seine Geldbörse prallte Jessup an die Brust, er konnte sie gerade noch
auffangen – »zurückzubringen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Ihr so ein aufgeblasener,
undankbarer ...« Aufgebracht fuchtelte Gemma mit den Händen durch die Luft und
suchte nach einem Namen, der ihrer Meinung nach Jessup gerecht wurde.
Beschwichtigend hob Jessup die Hände. »Ist
schon gut, ist schon gut, ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst.« Er
wandte sich an die Menschenmenge, die ihn und Gemma umschloss. »Schon gut,
Leute, hier gibt's nichts mehr zu sehen. Nichts passiert.« Langsam und murrend
begann die Menge, sich aufzulösen. Jeder hatte sich auf eine Auseinandersetzung
gefreut, die ein wenig Abwechslung in den trüben Arbeitsalltag bringen würde,
aber die Menschen sahen ein, dass daraus nichts wurde. Jessup wandte sich
wieder dem Jungen zu.
»Und ich möchte mich bei dir bedanken. Ich
habe nicht damit
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